Das Haus des Daedalus
das uns Gewißheit geben könnte. Überlegen Sie nur … läppische zweieinhalb Jahrhunderte! Verglichen mit dem Zeitraum der gesamten Kirchengeschichte ist das nichts! Selbst die Anfänge des Katholizismus sind ausführlich dokumentiert, der Bau der meisten Klöster und Kirchen und Kathedralen, Ereignisse, die weit länger zurückliegen. Und trotzdem … kein geschriebenes Wort existiert über die Gruft und ihre Baumeister. Alles, was wir wissen, ist das, was wir vor uns sehen. Fünf Räume voller Knochen.«
»Weiß man denn, wer die Gruft erbaut hat?«
»Es gibt Gerüchte, aber keine Beweise. Mehrmals hat es Bestrebungen gegeben, sie abzutragen und unseren toten Brüdern ein christliches Begräbnis zukommen zu lassen. Glauben Sie mir, ich wäre der erste, der seine Einwilligung dazu geben würde. Aber heute ist es noch schwieriger geworden als damals, die Gruft zu schließen. Sie ist eine unserer wenigen Geldquellen, und selbst ein besitzloser Orden wie der unsere ist auf gewisse Einkünfte angewiesen. Diese Gruft ist zugleich unser Segen und unser Fluch.«
»Warum Fluch?« fragte Coralina.
Dorian starrte sie an. »Das fragen Sie? Wir wissen nichts über die Bedeutung dieser Gruft, nichts über die Umstände, die zu ihrer Errichtung geführt haben.«
»Sie vermuten, daß keine christlichen Ziele dahinter standen?«
»Müssen wir diesen Gedanken denn nicht in Betracht ziehen? Soweit wir wissen, gab es nie unchristliche Umtriebe in diesem Kloster. Aber können wir dessen vollkommen sicher sein, wenn selbst ein Ereignis wie der Bau der Gruft undokumentiert ist?«
»Oder die Dokumente nachträglich beseitigt wurden«, gab Coralina zu bedenken.
»In der Tat«, pflichtete Dorian ihr bei. »Auch das ist eine Möglichkeit.«
»Was besagen denn die Gerüchte, von denen Sie vorhin sprachen?« wollte Jupiter wissen.
»Eines erzählt von einem Künstler, der ein Verbrechen beging und im Kloster Schutz suchte. Die Mönche gewährten ihm Unterschlupf, und in den Jahren, die er hier verbrachte, schuf er zum Dank und zum Lobpreis des Herrn die Knochendekorationen der Kapelle.«
»Die Mönche haben ihm die Gebeine von viertausend Brüdern zur Verfügung gestellt, um ein Kunstwerk zu schaffen?« fragte Coralina zweifelnd.
Dorian zuckte die Achseln. »Eine Legende, wie gesagt. Eine andere spricht von einem Mönch, der dem Wahnsinn verfiel, wieder eine von einem Verbrecher und Massenmörder, der sich zeitweilig im Kloster einquartierte und die Mönche mit seinem Werk verhöhnte.«
Er schüttelte den Kopf. »Sogar der Marquis de Sade besuchte im Jahr 1775 die Gruft, zu einer Zeit also, als sie vermutlich nicht einmal fertiggestellt war. Möglich, daß er dem wahren Künstler begegnete. In seinem Bericht Voyage en Italie behauptet er jedenfalls, daß ein deutscher Mönch dafür verantwortlich gewesen sei.«
Coralina fiel etwas ein. Aufgeregt wandte sie sich an Jupiter. »Erinnerst du dich, was ich dir über Piranesi erzählt habe? Daß er zu Beginn seiner Laufbahn das Kupferstechen aufgab, um die römische Unterwelt zu erforschen?«
»Er verkroch sich in den Katakomben«, erinnerte sich Jupiter.
»Und?«
Coralina wurde immer nervöser. »Er zog sich für Monate, vielleicht sogar für ein paar Jahre völlig aus der Öffentlichkeit zurück, weil ihn etwas dort unten so faszinierte, daß er alles andere dafür vernachlässigte. Zu jener Zeit verlor er einen Großteil seiner Stammkunden, die er sich später erst mühsam wieder erkämpfen mußte.«
Jupiter nickte irritiert. »Ich weiß trotzdem nicht, auf was du …«
»Piranesis Rückzug aus der Öffentlichkeit hat irgendwann Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stattgefunden, vermutlich in den vierziger Jahren, zwischen 1745 und 1749.«
Der Abt sah sie eindringlich an. »Etwa um diese Zeit wurde mit der Arbeit an der Gruft begonnen.«
»Glaubst du«, fragte Jupiter mit Blick auf Coralina, »daß Piranesi derjenige war, der die Gruft entworfen hat?«
»Zumindest hätte er die Begabung gehabt. Außerdem -die erste Fassung der Carceri erschien 1749! In den Jahren zuvor muß er den Eingang entdeckt haben. Zu selben Zeit also, als er verschwand.«
Sie sprach immer hastiger. »Siehst du es denn nicht? Es paßt alles zusammen! Piranesi zog sich um 1745 zurück und stieg in die Unterwelt der Stadt hinab … nur, daß er sich nicht mit den Katakomben zufriedengab. Mit Hilfe der Schale fand er den Nebeneingang zum Haus des Daedalus, hier im Kloster! Er stieg hinunter und kehrte
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