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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Jupiter kam zum ersten Mal ein Gedanke, der eigentlich so naheliegend, so offensichtlich war, daß er sich wunderte, noch nicht früher daran gedacht zu haben. »Wie kommt es eigentlich, daß ein ganz gewöhnlicher Schlüssel solch ein Tor verschließen kann? Hätte es nicht jeder mit einem Dietrich öffnen können? Oder hat man je versucht, es einfach aufzubrechen?«
    »Nein, niemals«, erwiderte Dorian. »Aber wenn die mündlichen Überlieferungen der Wahrheit entsprechen, ist dies kein gewöhnliches Schloß, und der Schlüssel, der dazu paßt, kein gewöhnlicher Schlüssel.«
    »Magie?«
    »Sie können es so nennen, wenn Sie möchten. Ich persönlich würde es als den Hauch eines Wunders bezeichnen.«
    Jupiter sah, wie Coralinas Hand über die Ausbuchtung in ihrer Hosentasche glitt. Ganz sachte nur fuhr ihr Zeigefinger die Form des Schlüssels nach, suchte vielleicht nach etwas Ungewöhnlichem, das die Worte des Abtes rechtfertigen würde.
    Der Hauch eines Wunder.
    »Sie besitzen den Schlüssel«, sagte Dorian, »und vermutlich gibt Ihnen das das Recht, durch das Tor zu gehen. Ich werde Sie nicht davon abhalten. Aber ich werde auch nicht mit Ihnen gehen oder Ihnen einen der Brüder als Begleiter mitgeben.«
    Jupiter sah, daß Coralina nickte. »Das ist auch nicht nötig«, sagte er.
    »Wie viele Mönche sind schon hinuntergestiegen?« fragte Coralina den Abt.
    »Remeo ist als einziger zurückgekehrt. Aber mit ihm sind Bruder Lorin und Bruder Pascale gegangen. Santino blieb am Tor zurück und hielt Wache. Er wartete dort viele Stunden, ehe Remeo zurückkehrte. Es war Nacht, und die Gruft war verlassen. Als die anderen Brüder am Morgen den Eingang aufschlossen, fanden sie Santino mit dem toten Remeo im Arm. Er stand unter Schock und brachte in den ersten Stunden kein Wort heraus. Es hat fast einen Tag gedauert, ehe er mir endlich alles erzählt hat.«
    »Und dann ist er fortgelaufen?«
    Dorian nickte. »In der Nacht hat er die Tür meines Büros aufgebrochen, die Videobänder und ein wenig Geld genommen und ist damit verschwunden. Ich habe kurz erwogen, die Polizei zu rufen, aber dann wären wir Gefahr gelaufen, daß die Existenz des Tors publik würde. Ich hatte gar keine andere Wahl, als Santino ziehen zu lassen. Mir blieb nur die Hoffnung, daß er allein zurechtkommen würde.«
    »Als ich ihn traf, behauptete er, verfolgt zu werden«, sagte Jupiter.
    Dorian ballte hilflos eine Hand zur Faust. »Nicht von uns.«
    »Er erwähnte einen Stier«, sagte Coralina.
    Der Abt wurde blaß. »Der Stier …« Er erhob sich, trat ans Fenster und verschränkte die Hände hinterm Rücken. »Er hat wirklich gesagt, er würde von einem Stier verfolgt?«
    »Das waren seine Worte.« Jupiter verschwieg, daß er selbst das Brüllen und Trampeln gehört hatte. »Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«
    »In das Steintor ist ein Stier eingearbeitet«, erklärte Dorian. »Stilisiert, aber es ist ohne Zweifel ein Stier.« Mit einem Kopfschütteln setzte er hinzu: »Der arme Santino muß den Verstand verloren haben.«
    »Können Sie uns mehr über die Knochengruft erzählen?« fragte Coralina. »Wie ist sie entstanden?«
    Dorian trat vom Fenster weg und blieb vor ihnen stehen. »Würden Sie mir erst den Schlüssel zeigen?«
    Coralina sah Jupiter an. Er nickte ihr zu. Sie schob die Hand in ihre Hosentasche und zog den Schlüssel hervor.
    In Anbetracht seiner Bedeutung sah der Schlüssel schlicht und nichtssagend aus. Der Abt streckte die Hand danach aus und befühlte den gezinkten Bart des Schlüssels, ohne daß Coralina ihn losließ.
    Schließlich nickte er. »Es ist gut. Sie können ihn wieder einstecken.« Er drehte sich um und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich will Ihre Frage beantworten, wenigstens soweit ich das vermag. Im Jahr 1631 verließ der Orden die alte Abtei Santa Bonaventura und gründete hier ein neues Kloster. Die Mönche brachten damals die Gebeine ihrer Toten mit. Allerdings wurde erst über hundert Jahre später, Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, mit der eigentlichen Arbeit an der Gruft begonnen.«
    »Sieht so aus«, stellte Coralina fest, »als würde Ihnen dieses Thema nicht besonders behagen.«
    »Es gibt zu viele Rätsel um die Entstehung der Gruft, zu vieles liegt noch immer im dunkeln.« Dorian holte tief Luft und fuhr fort: »Wir besitzen keinerlei schriftliche Aufzeichnungen darüber. Das Ganze ist vermutlich kaum mehr als zweihundertfünfzig Jahre her, und trotzdem gibt es keine Dokumente, nichts,

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