Das Haus des Daedalus
Aufregung nicht daran gedacht, irgendwelche Ausrüstungsgegenstände für den Abstieg ins Haus des Daedalus zu besorgen.
Ein schmaler Gang führte an fünf Gewölbekapellen vorbei. Wände und Decken waren weiß gestrichen, damit sich die gelbbraunen Gebeine deutlicher abhoben. Der Anblick war so bedrückend wie überwältigend.
Der Gang selbst war mit bizarren Formen geschmückt, die man aus Rippenbögen, Wirbeln, Unterkiefern und Kniescheiben zusammengesetzt hatte. Es gab hier keine kompletten Rippenkäfige mehr, keine Wirbelsäulen oder Hände; jedes der viertausend Skelette war in kleinstmögliche Teile zerlegt worden. Anschließend hat man sie zu etwas vollkommen Neuem zusammengefügt.
In der ersten Kapelle sah Jupiter einen mannshohen Altar aus Oberschenkelknochen, daneben, ein Gewölbe weiter, einen zweiten, der nur aus Schädeln bestand, und schließlich einen dritten aus Hüftknochen. Nur wenige Gerippe waren vollständig: In Kutten gekleidet lagen sie aufgebahrt in Nischen, andere standen aufrecht an den Rückwänden der Gewölbe.
Es gab hier keinen Quadratmeter, der nicht mit Gebeinen bedeckt war. Unter den Decken prangten verschlungene Ornamente aus Knochen, dem Stuck des Rokoko nachempfunden. Am meisten beeindruckte Jupiter ein makabrer Schmetterling, mit einem menschlichen Schädel und Schwingen aus Schulterblättern.
Während Dorian sie den Gang entlang führte, sagte Jupiter: »Hier müssen schon Knochen aufbewahrt worden sein, bevor mit dem Bau der Gruft begonnen wurde.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Die Aufschrift auf der Tonschale, mit deren Hilfe Piranesi das Tor entdeckte, erwähnte Gebeine. Wenn all das hier aber erst nach Piranesis Abstieg ins Haus des Daedalus entstanden ist, wie konnte er dann schon vorher dem Hinweis auf die Gebeine folgen?«
Coralina stimmte mit einem nachdenklichen Kopfnicken zu. »Das ist eigenartig.«
»Nicht, wenn es hier schon früher eine größere Ansammlung von Knochen gab, auf die die Inschrift der Scherbe hingewiesen hat«, widersprach Jupiter.
»Die Kapuziner sind schon in den dreißiger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts hierher gezogen«, sagte der Abt, »also über hundert Jahre vor dem Bau der Gruft. Die Gebeine unserer toten Brüder haben sie schon damals mitgebracht. Vielleicht haben sie sie in diesen Räumen aufbewahrt.«
»Möglich«, stimmte Jupiter zu.
»Zudem«, fuhr Dorian fort, »war damals hier ein Friedhof, auf dem auch Angehörige des Ordens begraben wurden.«
Coralina kam ein Gedanke. »Wäre es dann nicht vorstellbar, daß die Kapuziner schon früher auf das Tor stießen und das Kloster hierherverlegten, um es zu bewachen? Vielleicht war es sogar ein Mönch, der die Schale entdeckte … möglicherweise bei Grabungen auf dem alten Friedhof. Er kratzte die zweite Inschrift zwischen die Hieroglyphen, als verschlüsselten Hinweis auf den Standort des Tors. Danach gelangte die Schale ins Archiv des Vatikans, wo sie dann hundert Jahre später von den Adepten entdeckt wurde.«
Jupiter pflichtete ihr bei. Es war eine Theorie, nicht mehr, aber sie klang durchaus plausibel.
Am Ende des Gangs blieben sie stehen und blickten in die fünfte und letzte Kapelle. Der Altar war aus unterschiedlichen Knochen gebaut worden, so als wären hier Reste aus den übrigen Gewölben verwertet worden. Er wurde von zwei Gerippen in Kutten flankiert, leicht vorgebeugt, so als wollten sie jeden Moment aus ihren Nischen steigen und auf die Besucher zugehen. Auf dem Altar saßen drei weitere Skelette, so klein, daß sie nur von Kindern stammen konnten. Unter der Decke entdeckte Jupiter noch ein Gerippe, umrahmt von einem Oval aus Wirbelknochen. In der einen Hand des Toten hatte man eine Sense befestigt, in der anderen eine Waage; beide Geräte waren vollständig aus Gebeinen gefertigt.
Wie in den anderen Kapellen waren auch hier Gräber in den Boden eingelassen. In den ersten vier Gewölben waren sie durch Holzkreuze markiert, hier durch graue Steinplatten, die eingemeißelte Inschriften trugen.
»In dieser Kapelle wurden einige unserer größten Heiligen bestattet«, erklärte Dorian salbungsvoll. »Die drei Skelette auf dem Altar stammen vermutlich von Kindern der Barberini-Familie.«
Er warf noch einen letzten Blick auf die geschlossene Verbindungstür zum Vorraum, dann stieg er über das Absperrungsband, das den Gang vom Innenraum der Kapelle trennte. Als Jupiter und Coralina zögerten, forderte er sie mit einem Wink auf, ihm zu folgen.
Er trat vor den
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