Das Haus des Daedalus
Meinung zum Tagesgeschehen kundtat, immer bereit zu einem kurzen Gespräch, freudig, erregt, empört oder verärgert. Es wurde gestikuliert und geflucht, und oft beteiligten sich Verkäufer und Passanten, bis manchmal gar der Verkehr zum Erliegen kam.
Jupiter wechselte zügig die Straßenseite, als an der nahen Kreuzung die Ampeln auf Rot sprangen. Er war allein. Coralina war nach Hause gegangen, um einen Abdruck des Schlüssels auf der siebzehnten Platte zu nehmen. Einer Eingebung folgend hatte sie sich in den Kopf gesetzt, von einem Kunstschmied eine dreidimensionale Replik herstellen zu lassen. »Wer weiß, wozu es gut ist«, hatte sie gesagt, und Jupiter hatte nicht widersprochen. Außerdem war es ihm ganz recht, wenn sie ihn nicht zu Babio begleitete.
In einiger Entfernung parkte ein Streifenwagen der Polizei. Zwei junge Beamte saßen auf der Motorhaube, hielten ihre Maschinenpistolen in Händen und schauten wachsam um sich, so als erwarteten sie jeden Augenblick die bleireiche Wiederauferstehung der Roten Brigaden aus den Fluten des Tiber. Es war das gleiche Bild, das sich einem überall in Rom bot, für die Einheimischen längst ein gewohnter Teil des Stadtbildes, für Ausländer aber immer noch Anlaß für Irritation und Verunsicherung.
Das Haus des Zwerges war groß, auch wenn es von außen kaum etwas von den Reichtümern seines Besitzers verriet. Lediglich Gitter vor den unteren Fenstern waren ein vager Hinweis auf die Schätze in seinem Inneren, ebenso die winzige Überwachungskamera im oberen Teil des Torbogens und die hochmoderne Sprechanlage.
Amedeo Babio war reich, und das aus gutem Grund.
Jupiter hatte gelernt, das Urteil des Zwerges höher zu schätzen als das der meisten anderen Kunsthändler, mit denen er in den vergangenen Jahren zu tun gehabt hatte. Er hoffte lediglich, daß Miwas Saat aus Verleumdungen und übler Nachrede hier noch nicht aufgegangen war. Sie war immer eine gründliche Frau gewesen, in allem, was sie tat, und kaum etwas hatte sie gründlicher betrieben als die Demontage seiner Existenz.
Er war gerade unter den Torbogen des Hauses getreten, als aus der Gegensprechanlage in der Wand eine Stimme drang, zu verzerrt, um mit Gewißheit feststellen zu können, ob es die des Zwerges war.
»Wie groß sind Sie?«
Jupiter blickte hinauf ins Objektiv der Überwachungskamera.
»Komm schon, Babio! Du kennst mich.«
»Wie groß sind Sie?«, wiederholte die Stimme.
Jupiter seufzte. »Einsneunundachtzig.«
»Wie alt sind Sie?«
»Babio, bitte.«
»Wie alt sind Sie?«
»Fünfunddreißig«, knurrte Jupiter und war nicht sicher, ob er lächeln sollte. »Meine Schuhgröße ist …«
»Wie heißen Sie?« unterbrach ihn die Stimme.
»Jupiter.«
Die Stimme schwieg einen Moment. Dann, nach kurzem Zögern, sagte sie: »Das ist interessant. Der oberste der alten Götter bringt den Fall des neuen.«
Jupiter erinnerte sich, daß der Humor des Zwerges schon immer eigenwillig gewesen war. »Eine Sprechanlage als antikes Orakel? Wo sind die nackten Priesterinnen?«
Ein Brummen ertönte, als von innen der elektrische Türöffner aktiviert wurde. Jupiter drückte gegen die Tür. Sie war schwer, schwang aber ohne einen Laut nach innen.
Er trat in eine Toreinfahrt mit gewölbter Decke. Zu beiden Seiten wurde sie von hohen Statuen flankiert, perfekte Körper wie die Stein gewordenen Phantasien einer Leni Riefenstahl. Hinter Jupiter fiel die Tür ins Schloß.
Langsam ging er weiter, passierte eine ganze Batterie von Bewegungsmeldern und stand augenblicklich in gleißendem Strahlerlicht. Helligkeit flutete den Tortunnel, betonte die Vollendung der Statuen und verlieh der kleinen Gestalt, die am Ende des Durchgangs wartete, einen riesenhaften Schlagschatten. Amedeo Babio war immer ein Meister der Selbstinszenierung gewesen.
» Ich bin klein, mein Herz ist rein«, säuselte der Zwerg in akzentfreiem Deutsch, kicherte leise und verschwand dann in einer offenen Tür.
Jupiter schüttelte resigniert den Kopf und ging mit eiligen Schritten hinterher. Babio war nicht verrückt, aber aus irgendeinem Grund legte er es darauf an, den Leuten einen Anschein von Wahnsinn zu suggerieren. Ein Spleen, vielleicht, oder aber eine sonderbare Taktik, zu eigenwillig, um für andere durchschaubar zu sein.
Durch eine prachtvolle Eingangshalle folgte Jupiter dem Zwerg eine Treppe hinauf. Er betrat einen Saal, der jedem Nationalmuseum zur Ehre gereicht hätte. Auf Sockeln und Podesten erhob sich ein Irrgarten aus
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