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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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noch genau an etwas, das sie über ihn gehört hatte.
    Es hieß, Cristoforo besäße ein fotografisches Gedächtnis, das es ihm erlaubte, jedes Bild aus dem Gedächtnis zu kopieren. Ihr Freund hatte damals kopfschüttelnd erklärt, der Alte hätte mit diesem Talent eine Menge Geld verdienen können. Statt dessen aber verschwendete er seine Kunstfertigkeit an Werke, die der nächste Platzregen oder die Sohlen der Fußgänger nach wenigen Stunden zerstörten. »Er hat die Fähigkeit zu etwas Bleibendem«, hatte Coralinas Freund damals mit einem Kopfschütteln gemeint, »aber er ist zu einfältig, sie zu nutzen.«
    Der alte Mann schaute nicht auf, als sie mit raschen Schritten über die Piazza Cavalieri eilte und sich ihm näherte. Niemand sonst schenkte ihm Beachtung, aber vermutlich legte er darauf auch gar keinen Wert. Die hastigen und doch ungemein exakten Bewegungen, mit denen er das Kreidestück über den Asphalt bewegte, ließen auf die Intensität seines Tuns schließen, auf eine Besessenheit, wie Coralina sie noch bei keinem anderen Straßenmaler erlebt hatte.
    Während sie auf ihn zuging, hatte sie ihre Aufmerksamkeit derart auf den Mann konzentriert, daß sie das Bild erst in seiner Gesamtheit wahrnahm, als sie es fast mit den Füßen berührte.
    Sie blieb schlagartig stehen, und das nicht allein aus Rücksicht auf seine Kunst. Sekundenlang war sie so benommen, daß ihre Knie nachzugeben drohten. Angespannt ging sie neben dem Bild in die Hocke.
    »Cristoforo«, sprach sie den Maler mit einer Stimme an, die kränklich und fad klang.
    Er reagierte nicht, zeichnete einfach weiter, mit schnellen, zielstrebigen Bewegungen.
    »Cristoforo!« Sie versuchte Schärfe in ihren Tonfall zu legen, fühlte sich dabei aber nur hilflos und verwirrt. »Woher kennen Sie dieses Motiv?«
    Er gab noch immer keine Antwort. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, obwohl kühle Windböen über die Piazza strichen.
    Coralina erkannte, daß sie auf diese Weise keinen Erfolg haben würde. Sie war unsicher, was sie jetzt tun sollte; sie richtete sich langsam auf und betrachtete das Bild noch einmal in all seinen Details. Es war so gut wie vollendet. Lediglich am oberen Rand fehlten noch Schraffuren und der eine oder andere Lichteffekt.
    Die Zeichnung war etwa zwei Meter breit und drei Meter lang. Sie zeigte das Motiv der siebzehnten Kupferplatte. Coralina ballte die Hände zu Fäusten, so kraftvoll, daß die Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen stachen.
    Es bestand nicht der geringste Zweifel. Cristoforos Kreidezeichnung basierte auf Piranesis unbekanntem Carceri— Stich, einer Radierung, die … davon war sie bis vor wenigen Augenblicken überzeugt gewesen … seit Jahrhunderten kein Mensch mehr gesehen hatte. Niemand außer ihr selbst, Jupiter und der Shuvani.
    Es war absurd. Vollkommen abwegig. Cristoforo konnte den Stich nicht kennen. Die Platte war nie offiziell reproduziert worden, sie war in keiner bekannten Veröffentlichung des Zyklus enthalten.
    In einem Anflug von Panik huschte ihr Blick zu Cristoforos Utensilien, einer alten Zigarrenkiste voller Kreidestücke, keines länger als ein Fingerglied. Zu seinem Besitz schien auch ein zerknülltes Leintuch zu gehören, derart mit Farbe und Kreidestaub durchsetzt, daß es in manchen Kreisen beinahe selbst als Kunstwerk hätte durchgehen können.
    Obwohl sie die Gerüchte über das fotografische Gedächtnis des Alten kannte, suchte sie nach einer Papiervorlage, nach dem Ausriß aus einem Buch oder Bildband oder gar nach einem Foto, wie es andere Straßenmaler oft mit Klebestreifen neben ihren Bildern auf dem Asphalt befestigten.
    Doch Cristoforo besaß nichts dergleichen. Er zeichnete frei aus dem Gedächtnis … und reproduzierte dabei ein Bild, das bis vor zwei Tagen gar nicht existiert hatte.
    »Cristoforo«, versuchte sie es erneut, »bitte, hören Sie mir zu.«
    Ungerührt widmete er sich weiterhin den Konturen eines Brückengeländers. Auffällig war, daß er alle Linien mit weißer Kreide zeichnete, so daß der Eindruck einer Negativdarstellung des Originals entstand. Die triste Kerkerszenerie wirkte dadurch noch bedrückender.
    Hinter Coralinas Rücken meldete sich eine Stimme zu Wort.
    »Interessantes Motiv«, sagte Landini.
    Sie fuhr herum und hatte ganz kurz den verstörenden Gedanken, daß der hellhäutige Geistliche Kälte ausstrahlte, so blutleer und weiß wie er war. Damit hätte er gut in Cristoforos Zeichnung gepaßt, das negative Gegenstück zu einem

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