Das Haus des Daedalus
Menschen aus Fleisch und Blut.
Aber der Augenblick ihrer Irritation verging. »Interessant … ja, sicher.« Sie gab sich einen Ruck und fügte hinzu: »Ist es in Ihren Kreisen üblich, sich von hinten an Frauen heranzuschleichen?«
Landini tat ihren Vorwurf mit seinem tausendfach erprobten Lächeln ab. »Ich wußte nicht, daß Sie so schreckhaft sind, Signorina. Ich hoffe doch sehr, Sie akzeptieren meine Bitte um Entschuldigung.«
Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, wieviel ihr seine Entschuldigung bedeutete und was er von ihr aus damit tun dürfe, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, daß Cristoforo sich vom Boden erhob. Als sie sich ihm zuwandte, preßte er die Zigarrenkiste mit beiden Händen an seine Brust, so als sei sie kostbarer als jede Geldbörse. Einen Moment lang fürchtete sie, er würde ausgerechnet jetzt ihre Frage nach dem Bild beantworten; Landini würde alles mitanhören, die richtigen Schlüsse ziehen und sie von seinen Wachmännern festnehmen lassen.
Doch ihre Sorge war unbegründet. Cristoforo stand einfach nur da und betrachtete schweigend sein Werk.
Coralina bemerkte, daß nun auch Landini die Zeichnung eingehender betrachtete. »Ein echter Piranesi-Fan, wie mir scheint.« Mit listigem Blinzeln in Coralinas Richtung fügte er hinzu: »Sehr authentisch, nicht wahr?«
Sie wollte ihn nicht ansehen, deshalb bedachte auch sie die fertige Zeichnung mit einem langen Blick. Und da fiel ihr auf, was sie im ersten Moment so irritiert hatte.
Das Bild war nicht vollständig. Etwas fehlte, vielleicht der wichtigste Teil überhaupt. Cristoforo hatte zwar den unterirdischen Wasserstrom im Boden des Kerkerdoms gezeichnet, nicht aber die gemauerte Insel in seiner Mitte und den Obelisken, der sich darauf erhob. Somit fehlte auch der Scherenschnitt des rätselhaften Schlüssels.
Coralina schaute den alten Künstler an, suchte nach einer Regung in seinen faltigen Zügen. Der wild wuchernde Bart und der Schmutz auf seinen Wangen verliehen seinem Gesicht etwas Maskenhaftes, Unwirkliches. Eine geisterhafte Erscheinung, der jemand die Haut des alten Cristoforo übergestülpt hatte.
Der Maler legte den Kopf schräg, sah von dem Bild zu Coralina … und ganz offensichtlich durch sie hindurch.
Landini ging in die Hocke und runzelte die Stirn. »Vielleicht sollte ich das einem unserer Experten zeigen.«
Coralina erkannte ihre Chance. »Tun Sie das«, pflichtete sie ihm bei. »Gute Idee.«
Landini schaute zweifelnd zu ihr auf, dann erhob er sich und ging eilig Richtung Kirche. Coralina fiel auf, daß er sie in diesem Augenblick zum ersten Mal ohne sein falsches Lächeln angesehen hatte. Völlig ernst, und alles andere als freundlich.
Sie wandte sich wieder an den Maler. »Cristoforo? Können Sie mich hören?«
Der Schleier vor den Augen des Alten hob sich für einige Herzschläge. »Crist … o … foro«, murmelte er in einem sonderbaren Stackato.
Aufgeregt vergewisserte sie sich, daß Landini soeben im Inneren der Kirche verschwand. Lediglich Kardinal von Thaden stand noch immer vor dem Portal und sah zu ihr herüber. Coralina schauderte unter der frostigen Intensität dieses Blickes. Sie verstand auf einmal, weshalb noch heute viele die Glaubenskongregation als moderne Inquisition des Vatikans bezeichneten; zumindest von Thadens Auftreten machte seinem Ruf als Großinquisitor alle Ehre.
Die Jungen und Mädchen einer Schulklasse versammelten sich widerspenstig auf halber Strecke zwischen Coralina und dem Portal, und plötzlich war von Thaden hinter einem Pulk aufgekratzter Teenager verschwunden.
Coralina atmete tief durch. Dann machte sie einen raschen Schritt auf Cristoforo zu und packte ihn am Oberarm. »Kommen Sie! Ich bringe Sie weg von hier.«
Zu ihrem Erstaunen setzte sich der Alte nicht zur Wehr. Willenlos folgte er ihr, als sie mit ihm den Weg zum vorderen der drei Taxis einschlug.
»Signorina!«
Landini und ein weiterer Mann hatten die Kirche verlassen und näherten sich ihnen mit eiligen Schritten.
Coralinas Puls raste, als sie den Maler mit seiner klappernden Zigarrenkiste vor sich her zum Taxi schob. Vorne im Wagen faltete der Fahrer in aller Ruhe seine Zeitung zusammen und blickte ihr über den Rand seiner Sonnenbrille entgegen.
»Signorina!« rief Landini ihr erneut hinterher. »Warten Sie bitte!«
Sie wollte nicht losrennen, denn damit hätte sie indirekt die Schuld an allem eingestanden, was Landini ihr vorwerfen mochte. Statt dessen ging sie zügig weiter und führte Cristoforo
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