Das Haus des Daedalus
Schwärze führte.
Die Stimme von Bruder Remeo drang aus dem Lautsprecher, klar und deutlich, weil er die Kamera trug und dem eingebauten Mikrofon am nächsten war.
»Die Geräusche haben sich bis jetzt nicht wiederholt«, sagte er.
»Vielleicht war es doch nur eine Täuschung … Lorin betet wieder.«
Santino hatte das Gerät vor zehn Minuten abgeschaltet, weil er die Anspannung seiner drei Brüder nicht mehr ertragen hatte. Er selbst war schon verängstigt genug, aber die Unruhe der Mönche verstörte ihn noch mehr. Und das, obwohl sie bislang auf nichts gestoßen waren, das echten Anlaß zur Sorge gegeben hätte. Keine Lebewesen, keine Überreste früherer Expeditionen.
Lediglich eine Reihe von Lauten hatten sie gehört. Das Problem war, daß das Mikrofon der Kamera offenbar zu schwach war, um sie aufzuzeichnen, Remeo dies aber nicht wußte. Deshalb hatte er darauf verzichtet, die Geräusche zu beschreiben. Santino hatte von ihrer Existenz lediglich aus dem Gespräch der drei Männer untereinander erfahren. Auch Remeos tagebuchartige Erläuterungen, die er hier und da einstreute, waren keine große Hilfe, um die Herkunft der Laute zu bestimmen.
Die Kamera zeigte Lorin von hinten, wie er einige Schritte vor Remeo die Stufen hinabstieg. Er hatte den Kopf leicht gesenkt und betete. Seine Worte waren nur als unverständliches Raunen zu hören. Santino vermutete, daß der Mönch die Augen geschlossen hatte … die Stufen fand er auch blind, der Abstand war den Mönchen nach mehr als vierzehn Stunden längst in Fleisch und Blut übergegangen.
In der ganzen Zeit hatten sie nur einmal kurz gerastet. Nun beschlossen sie, erneut eine Pause einzulegen, länger diesmal. Zwei wollten schlafen, während der dritte Wache hielt.
Remeo legte die Kamera ein paar Stufen über ihnen ab, so daß sie auf den Lagerplatz der drei wies. Er trat seitlich ins Bild und schaute direkt ins Objektiv. Remeo war der jüngste der Mönche, gerade vierunddreißig, und in vielerlei Hinsicht der weltlichste von ihnen. Er hatte sich sofort bereit erklärt, die Kameraaufnahmen zu machen, während Lorin und Pascale größere Berührungsängste mit der unbekannten Technik hatten. Selbst jetzt, nach all den Stunden, fühlten sie sich noch immer unwohl, wenn Remeo die Kamera auf sie richtete, und meist verstummten sie auf der Stelle.
Zuletzt aber hatten sie ohnehin kaum noch geredet, abgesehen von Lorins Gebeten, Remeos gelegentlichen Erläuterungen ins Mikrofon und der knappen Diskussion, als sie jenseits des Treppengeländers die Geräusche gehört hatten.
Remeo war blond und hatte große, braune Augen. Er war zu mager, um attraktiv zu sein, dennoch wußte Santino, daß einige der älteren Mönche ein wohlwollendes Auge auf ihn geworfen hatten.
»Wir sind jetzt«, Remeo schaute auf seine Armbanduhr, »vierzehn Stunden und zwanzig Minuten unterwegs.« Er blickte über seine Schulter zurück zu Lorin und Pascale, die es sich auf den Treppenstufen leidlich bequem machten. »Unsere Beine tun weh, und was mich angeht, mir brennen die Augen. Es ist kälter geworden … wir alle spüren es. Mir ist jetzt klar, daß wir ein Thermometer hätten mitnehmen sollen. Aber die Kälte beweist immerhin, daß es in der Hölle nicht wirklich heiß ist, nicht wahr?«
»Remeo!« Pascales Stimme drang aus der Entfernung an das Mikrofon. Sie klang dumpf und müde.
Remeo, dem die Interaktion mit der Kamera allmählich Spaß zu machen schien, zwinkerte ins Objektiv. »Pascale hat Angst, daß wir uns versündigen, wenn wir hier unten von der Hölle sprechen. Aber versündigt man sich denn, wenn man in der Kirche den Himmel erwähnt?«
Pascale sagte etwas, aber es war zu leise, als daß Santino seine Worte hätte verstehen können.
Remeo zuckte nur mit den Schultern, dann stieg er die Treppe hinab und gesellte sich zu seinen beiden Brüdern. Die Kamera blieb etwa sechs oder sieben Stufen über ihnen zurück.
Santino horchte zur Tür des Hotelzimmers. Einen Moment lang hatte er geglaubt, Geräusche auf dem Korridor zu hören, doch jetzt herrschte wieder Stille.
Lorin und Pascale legten sich nieder, breiteten Decken über sich aus und rührten sich nicht mehr. Remeo blieb einen Moment zwischen ihnen sitzen, dann stand er auf, trat ans Geländer und blickte in die Tiefe. So verharrte er drei, vier Minuten lang, ehe sich Lorin hinter ihm plötzlich aufsetzte und etwas Unverständliches sagte. Santino vermutete, daß es eine Beschwerde über den hellen Scheinwerfer der
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