Das Haus des Daedalus
Fußspuren, die dort oben entlang liefen, führten in die Tiefe, so als hätte jemand den gleichen Abstieg unternommen wie die Mönche - kopfüber!
Die Spuren waren schwarz und unvollständig, mal von Zehen, mal von Fersen, dann wieder von ganzen Füßen.
»Wir können uns nicht erklären, woher die Spuren stammen«, sagte Remeo ins Mikrofon, nun wieder ein wenig gefaßter, vielleicht weil der Schrecken dieser Entdeckung zu absurd war, zu unfaßbar.
»Die schwarzen Stellen scheinen von … von verbrannter Haut zu stammen, die an der Decke klebt. Das Stück, das Lorin entdeckt hat, ist wahrscheinlich abgeblättert und heruntergefallen.« Remeo stockte, bekam sich aber gleich wieder unter Kontrolle. »Derjenige, der an der Decke entlang gelaufen ist, hat das augenscheinlich getan mit … brennenden Füßen.«
Der Mönch verstummte und ließ die Worte ungewollt nachklingen. Santino schauderte in seinem Versteck unter der Brücke und versuchte zu begreifen, was er da gerade sah und hörte.
Schließlich setzten Remeo und Lorin ihren Weg fort. Es gab keine Diskussion, nicht einmal den Ansatz eines Gesprächs. Der Abstieg war zum Automatismus geworden, ganz gleich, was ihnen unterwegs noch begegnen würde.
Hin und wieder schwenkte Remeo mit der Kamera hinauf zur Decke, und da waren sie noch immer, schwarze Spuren aus Hautfetzen und verbranntem Fett.
»Es riecht verkohlt«, sagte Remeo, »ganz leicht nur. Eben habe ich gedacht, wieder Geräusche zu hören, aber es waren nicht die gleichen wie vorher … eher eine Art Rauschen. Aber ich glaube, Lorin hat nichts bemerkt.«
Der zweite Mönch drehte sich nicht zur Kamera um, obwohl er Remeos Worte gehört haben mußte. In stumpfsinnigem Trott nahm er Stufe um Stufe.
»Moment!« stieß Remeo mit einemmal aus. »Was ist das?« Er riß die Kamera in einem hektischen Schwenk nach links, hinüber ins Nichts jenseits des Treppengeländers.
Dort war es nicht mehr dunkel. Von unten strahlte ein heller Schein herauf, so als streue hinter dem Horizont des Geländers eine aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen in die Finsternis.
»Da ist wieder das Rauschen«, keuchte Remeo. »Es wird lauter.«
Das Videobild verzerrte sich, als sich plötzliche Helligkeit in die Linsen des Objektivs brannte. Jede winzige Bewegung der Kamera erzeugte Nachbrenner, körnige Schweife aus Licht, die die Motive vervielfältigten wie in einem Spiegelkabinett.
Remeo trat langsam auf das Geländer zu. Von Lorin kam keine Reaktion, er befand sich außerhalb des Bildes und gab keinen Ton von sich.
Santino krallte seine Hände um die Metallkanten des Monitors, während er sich gemeinsam mit Remeo dem Abgrund näherte, Schritt für Schritt für Schritt.
Das Licht wurde heller, stieg zu ihnen herauf.
Die Kamera blickte über das Geländer in die Tiefe, nicht steil nach unten, sondern in einem stumpfen Winkel, der es ihr erlaubte, einen Teil des Panoramas aufzuzeichnen, das sich ihr darbot.
Santino hielt die Luft an. Der winzige Ausschnitt des Bildschirms war nichts im Vergleich zu dem, was die beiden Mönche auf der Treppe mit eigenen Augen sahen -und doch: Santino vergaß zu atmen, zu denken. Nur ganz allmählich begann er zu begreifen, was die Kamera dort einfing.
Großer Gott, er erkannte es!
Remeo schwenkte die Kamera steiler in die Tiefe. Mit einemmal wurde das Bild von Licht erfüllt, purer, gleißender Helligkeit, etwas, das brannte und loderte und Geräusche wie das Lachen eines Wahnsinnigen von sich gab.
Wie aus weiter Ferne waren die Schreie Lorins zu hören, und dann begann auch Remeo zu kreischen. Die Kamera fiel zu Boden.
Das letzte, was Santino erkannte, war ein kreuzförmiger Umriß, der von außen über das Geländer schwebte, ein Kreuz geformt aus reinem Feuer!
Das irre Gelächter und Remeos Kreischen vermischten sich zu infernalischen Lärm, schraubte sich zu etwas empor, das klang wie die Gesänge sterbender Wale, irgendwo im Abgrund des Ozeans.
Das Bild wurde schlagartig dunkel.
Die Aufzeichnung endete.
Fast eine Stunde lang saß Santino vollkommen reglos da. Starrte auf den leeren Monitor. Rührte sich nicht. Gab keinen Laut von sich.
Ein einziges Bild hatte sich fest in sein Gedächtnis gebrannt, verzerrt, unscharf, unvollständig.
Nicht das Feuerkreuz.
(Eine brennende Gestalt mit ausgebreiteten Armen?)
Was er auch nach einer Stunde immer noch vor sich sah, war das Panorama des Abgrunds. Der Ausblick vom Rand der Treppe. Zu dunkel, um mehr als einen Bruchteil zu
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