Das Haus des Daedalus
ihren Arm und führte sie zügig zwischen den Tischen hindurch auf den Platz. Noch einmal warf er einen Blick zurück über die Schulter, sah Babio dasitzen, so als fasziniere ihn etwas am Eingang des Pantheons, vielleicht die Taubenschwärme, vielleicht eine Gruppe junger Amerikanerinnen in Shorts oder Miniröcken. Er sah aus wie ein Tagträumer, nicht wie ein Toter.
»Ich …«, begann Coralina, aber Jupiter schüttelte rasch den Kopf.
»Nicht jetzt«, sagte er und drängte sie in eine der nächsten Seitenstraßen. Noch einmal, leiser: »Nicht jetzt.«
Babio blieb zurück, dann das Pantheon, das Gedränge der Touristen.
Als sie den Wagen erreichten, brach Coralina in Tränen aus.
Das Klischee entsprach also tatsächlich der Wahrheit: Wenn gar kein Ort mehr blieb, an den man sich zurückziehen konnte, landete man irgendwann unter einer Brücke.
Santino kam diese Erkenntnis zwischen zwei Bissen; von einem Teil des Geldes, das der Fremde ihm gegeben hatte, hatte er sich eine gefüllte Pastete gekauft. Über ihm spannte sich das steinerne Band der Ponte Sisto, der Verbindung zwischen Trastevere und der Altstadt. Vom Tiber stieg fauliger Geruch auf. Hinter dem westlichen Ufer war die Sonne untergegangen, Dämmerlicht lag über der Stadt.
Unkraut wucherte zwischen den Steinen des Uferstreifens. Am Nachmittag hatte sich Santino im Schatten der Brücke verkrochen und sich seitdem nicht mehr von der Stelle gerührt. Einmal waren ein paar Jugendliche die Treppe heruntergekommen, die von der stark befahrenen Uferstraße ans Wasser führte, aber sie hatten Santino nicht bemerkt und waren nach einer Weile wieder verschwunden.
Er hatte die Reisetasche hinter seinem Rücken versteckt und würde das Abspielgerät erst auspacken, wenn es vollkommen dunkel war. Die Erfahrungen der letzten Tage hatten ihm gezeigt, daß er nirgends in Sicherheit war, nicht in einer Pension, nicht im Haus Cristoforos, nirgendwo. Vielleicht war es besser, wenn er sich dort aufhielt, wo man ihn nicht suchte. Unter dieser Brücke, zum Beispiel.
Zum ersten Mal seit Tagen fühlte er sich einigermaßen sicher. Der Uferstreifen lag rund zehn Meter unterhalb der Stadt und war kilometerlang begehbar. Bei Nacht konnte Santino ihm durch halb Rom folgen, ohne daß irgendwer ihn bemerken würde. Und zur Not konnte er immer noch ins Wasser springen und versuchen, die andere Seite zu erreichen, auch wenn das bedeutete, die Videoausrüstung aufzugeben.
Nachdem es dunkel geworden war, wartete er noch eine halbe Stunde, bevor er das Abspielgerät auspackte. Er legte es auf seine Beine und lehnte sich mit dem Rücken gegen den grobgemauerten Fuß des Brückenpfeilers. Ein Knopfdruck, und das Bild der endlosen Wendeltreppe erschien auf dem Monitor.
Nachdem Bruder Pascale verschwunden war, hatten Remeo und Lorin ihren Weg in die Tiefe fortgesetzt. Santino hatte das zweite Band in Cristoforos Unterschlupf bis zu Ende gesehen und rund eine Stunde der dritten und letzten Cassette angeschaut. Der Streit zwischen Remeo und Lorin war längst beigelegt, und dumpfes Schweigen lag über dem Abstieg der beiden. Das animalische Trampeln und Brüllen hatte sich nicht wiederholt.
Remeo wechselte die Kamera gelegentlich von der einen auf die andere Schulter. Die Anstrengung des Treppensteigens zehrte zunehmend an seinen Kräften, und seine Kommentare ins Mikrofon waren seltener und schwer verständlich. Seine Stimme klang fad und tonlos. Santino fragte sich, ob die Luft dort unten dünner wurde, ohne daß die beiden Mönche es bemerkten.
Wieder überkam ihn das Verlangen, per Bildsuchlauf vorzuspulen. Der ewig gleiche Anblick zermürbte ihn beinahe mehr als die Strapazen, die er seit Tagen durchmachte. Er war am Ende, körperlich wie geistig. Die Eintönigkeit des Treppenabstiegs war fast noch schlimmer als das, was er erwartet hatte: gehörnte Dämonen mit scharfen Klauen, die seine Brüder zerfleischten; ein Blick von der Treppe in die Flammenmeere der Hölle; das Ende im schlimmsten Sündenpfuhl. All das hatte er sich ausgemalt und geglaubt, ihn könne nichts mehr erschüttern. Doch seine Vorstellungskraft hatte ihn nicht auf die Monotonie der Treppe vorbereitet. Zum wiederholten Mal fragte er sich, wie Remeo und Lorin die Kraft aufgebracht hatten, tiefer und tiefer hinabzusteigen. Der Stumpfsinn des Weges, dazu die unerträgliche Anspannung waren mehr, als ein Mensch ertragen konnte. Allein ihr Glaube mußte die Mönche aufrechterhalten.
Ihr Glaube …
Santino hatte
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