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Das Haus des roten Schlächters

Das Haus des roten Schlächters

Titel: Das Haus des roten Schlächters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Tore waren geschlossen, aber die
städtischen Bogenschützen erkannten den »Kaplan des
Coroners«, wie sie ihn nannten, und ließen ihn
passieren.
    Der Bruder
überquerte die Brücke; Philomels Hufe dröhnten hohl
auf den Bohlen. Es war gespenstisch. Sonst herrschte auf der
Brücke immer großer Betrieb, aber jetzt lag sie still da
und umhüllt von dichtem Flußnebel. Athelstan hatte das
unheimliche Gefühl, über einen Abgrund zwischen Himmel
und Hölle zu wandeln. Die Möwen, die in den
Holzbögen nisteten, flogen auf und protestierten kreischend
gegen die unerwartete Störung. Athelstan dachte an die Raben
im Tower. Schon wieder ein Toter, dachte er - zwei, wenn man den
Bären mitzählte. Athelstan hatte Mitleid mit dem
Tier. 
    »Vielleicht war
es am besten so. Noch nie habe ich ein so unglückliches Tier
gesehen.« Er dachte an die Lehren einiger
Franziskanerbrüder, die wie ihr Ordensgründer
überzeugt waren, daß alle Tiere Gottes Geschöpfe
seien und deshalb niemals schlecht behandelt oder gefangengehalten
werden
dürften.       
    Athelstan kam an der
stillen, dunklen Kapelle von St. Thomas von Canterbury vorbei, die
in der Mitte der Brücke stand. Die Wachposten am Ufer von
Southwark riefen ihm zu; einige hielten ihn sogar für einen
Geist. Athelstan rief seinen Namen; man ließ ihn durch und
neckte ihn wegen seines unverhofften Erscheinens.
    Der Ordensbruder
führte Philomel durch die dunklen Gassen von Southwark. Hier
fühlte er sich sicherer. Man kannte ihn, und niemand
würde wagen, ihn zu überfallen. Er kam an einer Schenke
vorbei, wo ein Junge, der sich ein paar Brotkrusten verdienen
wollte, im Eingang stand und mit wunderschöner Stimme ein
Weihnachtslied sang. Athelstan lauschte den Worten, die Wärme
und Fröhlichkeit verhießen. Er tätschelte Philomels
Hals. »Wo werden wir das Weihnachtsfest verbringen, he, alter
Freund?« fragte er und wanderte weiter. »Vielleicht
lädt Lady Cranston mich ein, jetzt, wo ihre Verwandten aus dem
West Country nicht kommen.«
    Unvermittelt blieb er
stehen. »Lady Maudes Verwandte!« murmelte er auf der
stillen, ruhigen Straße, und ein Schauder lief ihm über
den Rücken. »Seltsam«, fuhr er fort. »Eine
solche Kleinigkeit, bloß ein Schaum auf den Ereignissen des
Tages…« Er rieb sich das Gesicht. Lady Maudes Worte
hatten die Erinnerung an etwas anderes geweckt.
    Fast zerrte er nun
Philomel nach St. Erconwald zurück und hatte es so eilig,
daß das Pferd ihn erbost anwieherte. Athelstan brachte das
alte Streitroß in seinen Stall, schaute nach der Kirche und
erinnerte sich schuldbewußt an den Zorn, den er heute an den
Tag gelegt hatte. Bonaventura war anscheinend auf
Freiersfüßen unterwegs. Athelstan ging in sein Haus,
zündete ein Feuer an und aß hastig ein Stück kaltes
Fleisch. Nach wenigen Bissen warf er den Rest ins Feuer; das
Schweinefleisch war faulig. Er goß sich einen Becher
verdünnten Wein ein, räumte den Tisch ab und machte sich
daran, alles aufzulisten, was er über die Morde im Tower
wußte.
    Der Gedanke, der
vorhin seine Erinnerung in Gang gesetzt hatte, war
möglicherweise der Schlüssel zur Lösung des ganzen
Problems. Lächelnd dachte er an Pater Anselm und dessen oft
wiederholtes Axiom in seinen Vorlesungen über die Logik.
»Wo es ein Problem gibt, muß es auch eine Lösung
geben. Man muß nur den Weg finden. Manchmal genügt das
kleinste Lichtfünkchen.« Dann hatte Anselm ihn mit
seinen schwarzen Äuglein angesehen. »Denke immer daran,
mein junger Athelstan. Das gilt für das Reich der Metaphysik
ebenso wie für die Ereignisse eines jeden
Tages.«
    Athelstan schloß
die Augen. »Ich denke immer noch daran, Vater«,
murmelte er. »Der Herr lasse dich ruhen in Frieden.« Er
rückte sein Schreibtablett zurecht, ordnete seine Gedanken und
tauchte die graue Gänsefeder in die Tinte. Fluchend stellte er
fest, daß die Tinte zu kalt war; er hielt den Topf über
die Kerze, um sie zu wärmen, und las noch einmal schnell
durch, was er sich im Tower notiert hatte. Als die Tinte warm genug
war, schrieb er sorgfältig auf, zu welchen
Schlußfolgerungen er gekommen war.
    Primo: Obwohl gut
geschützt, war Sir Ralph Whitton im Turm der Nordbastion
ermordet worden. Sir Ralph hatte hinter einer verschlossenen
Tür geschlafen, für die er und die Wachen draußen
einen Schlüssel gehabt hatten. Die Tür zu dem Gang, der
zu der Schlafkammer führte, war ebenfalls verschlossen, und
auch diese Schlüssel hatten nur er und seine

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