Das Haus in den Wolken
Dorf mit zweihundert Einwohnern verbracht hat. Leben Sie schon lange in London?«
»Ziemlich lange, ja.«
Er sah unglaublich gut aus, seine Gesichtszüge waren klar geschnitten, seine Haare und seine Augen vom gleichen Dunkelbraun.
»Soll ich Ihnen die anderen mal vorstellen?«, fragte Ruby.
»Ja, bitte.«
»Der Mann in der grünen Jacke, der da bei der Fensterbank steht, ist Kit. Er ist Bildhauer und wohnt im selben Haus wie ich. Das Mädchen neben ihm ist Daisy Mae, seine Freundin. Und dann kommt Rob, er ist Maler, dann Inez, sie arbeitet als Mannequin, und der Mann mit der Pfeife ist Edward Carrington. Edward und ich sitzen im selben Büro.«
»Dann sind Sie also keine Künstlerin?«
Ruby schüttelte den Kopf. Drei ihrer Kurzgeschichten waren veröffentlicht worden â sie hätte ihm also erzählen können, dass sie Schriftstellerin sei. Aber sie behielt ihren kleinen Erfolg lieber für sich: Er schien ihr zu zerbrechlich zu sein, um an die Ãffentlichkeit gezerrt zu werden.
»Auch kein Mannequin?«
Sie schnaubte. »Wohl kaum.«
»Ich ï¬nde, Sie würden ein gutes Mannequin abgeben. Sie haben so ein schönes schmales, knochiges Gesicht. Ich mag schmale, knochige Gesichter viel lieber als diese dicken, puddingrunden.« Er lächelte sie an, während er redete.
»Sie sind ja sehr direkt.«
»Wir Leute aus Yorkshire nehmen selten ein Blatt vor den Mund. Aber es war als Kompliment gemeint.«
»Dann nehme ich es auch so. Wer will schon wie ein Pudding aussehen? Was tun Sie denn, Joe?«
»Bis jetzt noch gar nichts. Ich bin den ganzen Tag herumgelaufen und habe nach Arbeit gesucht. In einem Büro werden sie mich sicher nicht einstellen, dafür sehe ich nicht klug genug aus. Also habe ich in Pubs und Fabriken nachgefragt.«
»Wo wohnen Sie?«
»Im Moment auf dem FuÃboden eines Freundes. Sobald ich etwas Geld verdiene, will ich mir ein eigenes Zimmer mieten.«
Eine junge Frau unterbrach sie mit lauter Stimme. »Sie haben doch etwas mit den Finboroughs zu tun, oder?«
Ruby sah auf. »Ich kenne sie, ja.«
Vor Ruby stand eine elegante Blondine. Ihr Pelzmantel und die Perlenkette wirkten fehl am Platz in der eher derben Fitzroy Tavern. Kleiner Abstecher in die Niederungen des Volkes, dachte Ruby.
Die Blondine lächelte ein wenig. »Ich dachte, es interessiert Sie vielleicht, dass Philip Finborough alles tut, um aus der Cocktailbar im Savoy rauszuï¬iegen. Er ist fürchterlich betrunken und übelster Laune.« Mit diesen Worten verschwand sie wieder in der Menge.
Ruby sagte: »Tut mir leid, ich muss gehen«, nahm ihren Mantel und ihre Tasche und bot ihrem Nachbarn die Hand. »Schön, dass wir uns kennengelernt haben, Joe. Wir laufen uns sicher wieder über den Weg.«
An der Goodge Street stieg sie in die Northern Line. In der staubigen Düsterkeit der U -Bahn dachte sie an Joe Thursby. Der Junge sah verï¬ixt gut aus und hatte so etwas Humorvolles im Blick. Sie mochte ihn, und sie war sicher, dass er sich für sie interessierte â warum hatte sie ihn dann ohne einen Blick sitzen lassen, sobald Philip Finboroughs Name gefallen war? Sie wusste natürlich, warum. Hätte diese Blondine gesagt, er sitze in einer Hotelbar in Paris und brauche ihre Hilfe, wäre sie postwendend zum Victoria-Bahnhof gefahren und hätte den Zug zur Fähre genommen.
In Charing Cross stieg sie aus und lief den Strand hinunter. Als sie zur Auffahrt des Savoy kam, sah sie ihn. Er lehnte an einer Wand und rauchte. Sie sprach ihn mit Namen an, und er hob die halb geschlossenen Lider.
»Hallo, Ruby. Ich würde dir ja einen ausgeben, aber die Mistkerle haben mich rausgeschmissen.« Er nuschelte.
»Ich möchte nichts trinken. Vielleicht lieber etwas essen. Hast du etwas gegessen, Philip?«
Verwirrt sah er sie an. »Keine Ahnung. Glaube nicht. Wo wollen wir hingehen? Zu Wheelerâs⦠Bertorelliâ¦?«
Die Vorstellung, Philip in diesem Zustand mit Austern oder Spaghetti kämpfen zu sehen, war wenig verlockend. Also schlug sie vor: »Warum gehen wir nicht einfach in deine Wohnung?«
Er schüttelte den Kopf. »Da will ich nicht hin. Die habe ich endgültig satt. Könnte sogar sein, dass Stefï¬e da ist.«
»Stefï¬e?«
»Ich glaube, ich habe ihr mal einen Schlüssel gegeben«, murmelte er unbestimmt vor sich hin.
»Dann komm
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