Das Haus in den Wolken
»Sie sind Richard Finboroughs Sohn. Worum mussten Sie je kämpfen?«
»Sie glauben wohl, ich wurde mit dem silbernen Löffel im Mund geboren?«
»Ist es nicht so?«
So hatte er sich den Verlauf dieses Gesprächs nicht vorgestellt. Nicht er sollte sich verpï¬ichtet fühlen, sich zu rechtfertigen. Sie war schlieÃlich diejenige, die sich entschuldigen, besser noch, weinend ihre Schuld eingestehen und ihn um Vergebung bitten sollte. Doch ihre Stichelei hatte ihn provoziert, und wütend rief er: »Sie wissen gar nichts von mir! Sie wissen ja nicht, wovon Sie reden!«
»Waren Sie je arbeitslos?«
»Nein, aber â«
»Millionen Menschen sind zurzeit arbeitslos. Millionen müssen von der Hand in den Mund leben â anständige, ï¬eiÃige Menschen.«
»Das weià ich â«
»Wo arbeiten Sie?«
»Das wissen Sie doch. Bei Finboroughs.«
»Ah, bei Finboroughs .« Ein Lächeln umspielte ihren Mund. »Und wie haben Sie Ihre erste Anstellung bekommen, Philip? Haben Sie sich um ein Vorstellungsgespräch bemüht⦠haben Sie sich bei Ihrem Vorgesetzten beworben?«
»Natürlich nicht. Aber ich musste von der Pike auf alles machen, was die anderen auch tun. Ich musste mich beweisen.«
»Wie lästig, nicht wahr?«
»Wenn Sie glauben, es sei leicht, als Sohn vom Chef mit den Männern in der Fabrik zu arbeiten, dann irren Sie sich.«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich kann mir vorstellen, dass es da einigen Unmut gibt«, gab sie zu. »Aber die Arbeiter Ihres Vaters dürften es kaum wagen, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sagen Sie, wo wohnen Sie?«
Ihre Frage verwirrte ihn, doch er antwortete. »Ich habe eine Wohnung in Chelsea.«
»Und Sie sind⦠wie alt?«
»Fünfundzwanzig«, sagte er steif.
»Haben Sie Dienstboten?«
»Eine Frau, die kocht und sauber macht, das ist alles.«
»Und in der Arbeit haben Sie zweifellos eine Sekretärin.« Sie lächelte. »Es muss schön sein, wenn einem all diese lästigen kleinen Aufgaben abgenommen werden⦠eine Frau, die Ihren FuÃboden wischt, und eine andere, die Ihre Briefe tippt.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass ich verwöhnt bin?«
»Natürlich sind Sie verwöhnt. Wie könnte es anders sein?«
Doch nun schien das Feuer in ihr erloschen zu sein, und als sie unter einer StraÃenlaterne entlanggingen, sah Philip, wie müde und abgespannt ihr Gesicht wirkte. Ein Triumphgefühl stieg in ihm auf; als hätte er sie besiegt, ja überwältigt.
Die Oxford Street war voller Menschen, die alle nach der Arbeit nach Hause eilten, und sie konnten kaum ein Wort wechseln. Als Mrs. Davenport in die Regent Street abbog, warf sie ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Immer noch da? Wie hartnäckig Sie doch sind.«
»Ich gehe nicht, ehe Sie mir versprochen haben, meinen Vater in Ruhe zu lassen.«
Ãber einem Eisengitter im Boden, das den Blick in den Untergrund freigab, blieb sie plötzlich stehen. »Soll ich Ihnen einmal von meinem Leben erzählen?«, sagte sie. »Das sieht doch wesentlich anders aus. Ich bin mit vierzehn von der Schule abgegangen, um in einem Laden zu arbeiten. Vor einigen Jahren beschloss ich dann, ein eigenes Geschäft aufzumachen. Ich arbeite neun Stunden am Tag, sechs Tage die Woche. Und ich muss etwas aus dem Laden machen, weil ich nicht nur mich selbst ernähren muss, sondern auch noch meine Eltern unterstütze. Aber mir wischt niemand die FuÃböden oder tippt die Briefe. Ich mache alles selbst.«
»Nichts davon rechtfertigt Ihr Handeln.«
»Wie schon gesagt, ich entschuldige mich nicht für das, was ich tue. Das habe ich noch nie getan.«
Sie sah auf ihre Armbanduhr und machte eine rasche, nervöse Handbewegung. »Sie verschwenden Ihre Zeit, indem Sie mir hinterherlaufen. Kurz nachdem Sie gestern meine Wohnung verlassen haben, hat meine Schwester angerufen und mir mitgeteilt, dass es meiner Mutter nicht gut geht. Sie wurde ins Middlesex-Krankenhaus gebracht, und dort will ich jetzt hin. Also, Philip, falls Sie tatsächlich eine Station voll schwerkranker Frauen aufsuchen wollen, folgen Sie mir nur weiter. Falls nicht, schlage ich vor, Sie gehen besser nach Hause.«
Sie eilte davon. Philip blieb auf dem Gehsteig stehen und sah ihr nach, bis sie in der Menschenmenge und der Dunkelheit verschwand.
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