Das Haus in den Wolken
verwöhnter, verhätschelter Bursche. Wahrscheinlich war ihm zum ersten Mal in seinem Leben etwas verweigert worden, als sie seine Forderung von sich wies, sich nicht mehr mit Richard zu treffen.
Aber warum hatte sie Philip Finborough nicht die Wahrheit gesagt: dass sie überhaupt kein Verhältnis mit seinem Vater hatte, dass die Beziehung rein freundschaftlicher Natur war â eine unpassende und geheim gehaltene Freundschaft, gewiss, aber dennoch nur eine Freundschaft. Zum Teil sicher, weil sie nicht bereit war, sich unter Druck setzen zu lassen, und Philips Forderungen hatten ihren Trotz herausgefordert.
Doch jetzt, hier, in der bedrückenden Atmosphäre der Krankenstation, zwang sie sich, der unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu sehen â dass diese Beziehung in Richards Augen sehr viel mehr gewesen war als Freundschaft. Sie dachte an den Kuss im Lagerraum. Richard Finborough hatte ihre Treffen vermutlich â nein, ganz gewiss â als Auftakt zu einer Affäre betrachtet. Dass er sie verehrte, hatte sie natürlich gewusst â hätte sie seine Gesellschaft sonst so sehr genossen? Aber was war schlimmer: das billige Flittchen zu sein, das Philip Finborough in ihr sah, oder einem Mann falsche Hoffnungen zu machen?
Als Richard sie an diesem Morgen angerufen hatte, hatte sie ihm mit der Begründung, ihre Mutter sei krank, abgesagt. Später hatte Richard ihr Blumen geschickt, ein groÃes Bouquet roséfarbener Rosen. Elaine hatte es mit in ihre Wohnung genommen, sich aber nicht mehr so sehr darüber freuen können wie noch über den ersten BlumenstrauÃ; und schlieÃlich hatte sie die Rosen ihrer Mutter mitgebracht. Doch in der Krankenhausvase auf dem metallenen Nachtschrank wirkten die Blumen aufdringlich und fehl am Platze. Sie hätte sie in den Müll werfen sollen, dachte Elaine verärgert.
Nach dem Besuch im Krankenhaus gingen Elaine und Gilda zur Goodge Street, von wo Gilda mit der Northern Line bis nach Hendon fahren konnte; Elaine würde am Oxford Circus umsteigen nach St. Johnâs Wood. Elaine gab ihrer Schwester einen Kuss, bevor sie sich trennten, und sagte ihr noch, dass sie zu ihr in den Laden kommen und sich einen Hut für die Hochzeit aussuchen solle. »Was du willst«, versicherte sie ihr lächelnd. »Irgendetwas ganz Tolles.«
Es war beinahe neun Uhr, als sie nach Hause kam. Sie war kaum um die Ecke gebogen, da sah sie schon den massigen Umriss eines Motorrads, das am Bordstein vor ihrem Haus parkte. Als sie Philip Finborough erkannte, stöhnte sie gereizt.
»Oh, um Himmels willen«, rief sie ungeduldig, »nicht Sie schon wieder!«
»Haben Sie es erledigt?« Philips Ton war aggressiv und herrisch. »Haben Sie meinem Vater gesagt, dass Sie sich nicht mehr mit ihm treffen?«
»Ãber diese Angelegenheit unterhalte ich mich nicht mehr mit Ihnen, Philip. Gehen Sie bitte.«
Sie lief die Stufen zu ihrer Haustür hinauf, und als sie aufsperrte, hörte sie zu ihrer groÃen Erleichterung das Aufheulen eines Motors. Nur eine Sekunde später rutschte quietschend Gummi über den Asphalt. Erschrocken fuhr sie herum und musste zusehen, wie Philip Finborough die Kontrolle über sein Motorrad verlor und stürzte, während die Maschine schräg gekippt noch einige Meter auf der falschen Fahrbahn vorwärtsraste, ehe sie gegen einen Baum prallte.
Sie lieà Handtasche und Schlüssel fallen und rannte zu ihm. Er lag reglos am Rinnstein. Sie versuchte zu rufen, doch sie bekam keinen Laut heraus. Als sie ihn erreicht hatte, kniete sie sich neben ihn, schüttelte ihn und sagte seinen Namen.
Philips Augenlider ï¬atterten, dann öffneten sie sich, und erleichtert sank Elaine auf ihre Fersen zurück. An seiner Stirn war Blut, benommen sah er sie an. »Sind Sie verletzt?«, fragte sie eindringlich. »Haben Sie sich irgendetwas gebrochen?«
Er setzte sich auf. »Ich glaube nicht.« Dann hievte er sich auf den Bordstein, schloss die Augen und stützte den Kopf in die Hände.
Aus den umliegenden Häusern waren Leute herbeigelaufen, die den Krach gehört hatten. Zwei Männer richteten das Motorrad wieder auf, schoben es heran und stellten es auf dem Gehsteig ab. Elaine sagte: »Sie kommen besser mit in meine Wohnung.«
»Das Motorrad â«
»Vergessen Sie das elende Motorrad! Sie hätten sich totfahren können!« Ihre Stimme klang unnatürlich
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