Das Haus in den Wolken
soll sich nicht einbilden, ich würde einfach vergeben und vergessen. Aber ich möchte nicht, dass sie hungern muss. Ich möchte nicht, dass sie leidet.«
»Na schön, wenn du es nicht anders willst, werde ich Sara das Geld geben.« Isabel musste schon wieder ein Seufzen unterdrücken.
Vierzehn Tage später war Isabel wieder in London und auf dem Heimweg von der Leihbücherei, als sie vor dem Tor zu ihrem Haus einen Mann stehen sah, der dort offenbar wartete. Er rauchte eine Zigarette und blickte von Zeit zu Zeit den Gehsteig hinauf und hinunter. Neben ihm stand ein kleiner Koffer. Ein Handlungsreisender, dachte sie, oder einer der zahllosen Arbeitslosen aus den Fabrikstädten im Norden oder den Kohlebergwerken in Südwales, die auf der Suche nach Arbeit nach London strömten.
Sein Blick blieb an ihr haften, als sie sich dem Tor näherte. Seine Kleidung war billig und grell, und an einem seiner Lacklederschuhe hatte sich vorn die Sohle vom Oberleder gelöst. Als sie näher kam, drückte er seine Zigarette zwischen Daumen und Zeigeï¬nger aus, verstaute den Stummel in einer Blechdose und schob diese in seine Tasche. Dann lüftete er den Hut.
»Mrs. Finborough?«
Er sprach mit nasalem amerikanischem Akzent, was sie verwunderte. »Ja?«, fragte sie kurz. »Kann ich Ihnen behilflich sein? Im Moment haben wir leider keine Arbeit, aber in der Küche bekommen Sie sicher ein Brot und eine Tasse Tee.«
»Sie erinnern sich nicht an mich?«, fragte er.
Sie betrachtete forschend sein Gesicht, während sie überlegte, ob er vielleicht einmal im Haushalt oder vielleicht in der Firma angestellt gewesen war. Abgesehen von diesem unerwarteten amerikanischen Akzent, schien er sich nicht von den Tausenden von Männern zu unterscheiden, die in Not geraten waren. Er war um die fünfzig, hatte ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht mit einem feinen bläulichen Netz geplatzter Ãderchen auf den Wangen und der Nase. Das einzig Besondere an ihm waren die sehr dunklen Augen, die zwischen aufgequollenen roten Lidern eingebettet waren.
Dann sagte er: »Aber ich erinnere mich an dich , Isabel.«
»Ich glaube, Sie irren sich«, sagte sie kalt. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden â«
»Broadstairs«, sagte er, und Isabel erstarrte, die Hand schon am Torknauf.
»Ah, du erinnerst dich also doch«, hörte sie ihn sagen.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Aber sie musste sich noch einmal nach ihm umsehen, und etwas wie ein Blitz des Erkennens durchzuckte sie, dem zuerst Ungläubigkeit und dann Entsetzen folgte, als sie ihm noch einmal ins Gesicht blickte.
Die Augen so tiefbraun, dass sie beinahe schwarz wirkten. Dunkel wie Toffee aus Rübensirup.
»Ich kenne Sie nicht«, ï¬Ã¼sterte sie. »Ich bin Ihnen nie zuvor begegnet.«
Er lächelte. »Ich weiÃ, die Jahre waren nicht freundlich zu mir, aber du kannst mich nicht vergessen haben. Du kannst doch deinen alten Freund Alï¬e Broughton nicht vergessen haben, Isabel.«
11
I M S EPTEMBER SAH SICH DAS L AND am Rand eines Krieges mit Deutschland. Alles andere trat in den Hintergrund, wurde im Vergleich bedeutungslos. Hitler hatte Ansprüche auf das Sudetenland erhoben, einen Teil der Tschechoslowakei mit einer beträchtlichen Zahl deutschsprachiger Bürger. Edvard BeneÅ¡, der tschechoslowakische Präsident, hatte das Bündnis seines Landes mit Frankreich genutzt, um Hitlers Forderungen abzuwehren. Jetzt aber hatte Hitler den Einsatz erhöht und drohte, in der Tschechoslowakei einzumarschieren, wenn ihm nicht Frankreich und GroÃbritannien das Sudetenland zugestanden.
Man fürchtete allgemein, dass sich ein lokaler europäischer Konï¬ikt wie 1914 zu einem Weltkrieg ausweiten würde. Es gab genügend Kriegsdenkmäler in Städten und Dörfern, die an die Gemetzel an der Somme und bei der Dritten Flandernschlacht erinnerten. Zudem erkannte man plötzlich, dass GroÃbritannien auf einen Krieg nicht ausreichend vorbereitet war. Und es fehlte, dachte Ruby, aller Kriegseifer.
Nun wurden die Vorbereitungen zum Zivilschutz in Angriff genommen, den man jahrelang vernachlässigt hatte. Ruby besuchte einen Vortrag über die Gefahren von Giftgas. Mit Lautsprechern ausgestattete Lieferwagen rollten durch die StraÃen, um die Bevölkerung zu ermahnen, sich Gasmasken zu holen. In einem Kindergarten in
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