Das Haus in den Wolken
wenig sich das Haus veränderte. In anderen Familien wurden abgenutzte Möbelstücke durch neue ersetzt, wurden neue Vorhänge aufgehängt oder düstere Zimmer mit frischer Farbe aufgehellt. Nicht bei den Quinns. In anderen Familien wurden Dinge, die man nicht mehr mochte oder brauchte, ausrangiert oder weitergegeben, doch in Nineveh war nichts so verschlissen oder alt, dass man sich kurzerhand davon trennte. Ruby fragte sich, ob die Jacken und Mäntel, die an den Haken hingen, dieselben waren wie bei ihrem letzten Besuch; ob der Kerzenstummel auf der Untertasse derselbe war. Ob diese Jacken und Mäntel und diese Kerze vielleicht schon da gewesen waren, als sie als kleines Mädchen zum ersten Mal nach Nineveh gekommen war.
Sie aà mit Maude und Hannah zu Mittag, dann half sie Hannah beim Abwasch. Als es für sie Zeit wurde, wieder zu gehen, bat sie Hannah, sie den Weg hinunter bis zum Gebüsch zu begleiten.
Ihre Cousine war jetzt beinahe so groà wie sie. Sie hatte einen schmächtigen Körper, und ihr langes, hellbraunes Haar war fest geï¬ochten. Mit einer anständigen Frisur, dachte Ruby, und einem netten Kleid statt dem verwaschenen altmodischen Kittel, den sie anhatte, würde sie gar nicht so übel aussehen. Sie brauchte sich nur noch gerade zu halten und den Leuten in die Augen zu schauen, wenn sie mit ihnen redete.
Einen Moment stellte sie sich vor, sie führte Hannah mit ihren Zöpfen und dem verwaschenen Baumwollkittel bei ihren modebewussten Freunden ein, vertrieb aber dann schleunigst diesen gemeinen Gedanken.
»Besuch mich doch mal in London, Hannah.«
Hannah riss die Augen auf. »In London?«
»Ja, warum denn nicht? Es liegt ja nicht am Ende der Welt.«
»Nein, das geht auf keinen Fallâ¦Â«
»Natürlich geht das. Du brauchst dir nur einen Fahrschein zu kaufen und dich in den Zug zu setzen.«
»Ich habe kein Geld.«
»Was? Ãberhaupt keins?«
Hannah schüttelte den Kopf.
»Gibt dir Tante Maude kein Geld?«
Wieder Kopfschütteln. Nein, natürlich bezahlte Tante Maude ihrer Tochter keinen Lohn â warum sollte sie, wenn sie ihre Arbeitskraft umsonst haben konnte?
»Dann leih ich dir etwas.«
»Danke, Ruby, aber lieber nicht. âºKein Borger sei und auch Verleiher nichtâ¹, sagt Mutter immer.«
»Du brauchst dich doch nicht immer an das zu halten, was deine Mutter dir sagt.«
Hannah blickte nervös zurück zum Haus.
»WeiÃt du was«, sagte Ruby, »ich schicke dir eine Fahrkarte. Als Weihnachtsgeschenk.«
»Ich kann nicht. Du verstehst das nicht. Es geht einfach nicht.«
Ruby kam ein Gedanke. »Du bist noch nie Zug gefahren, stimmtâs, Hannah?«
»Ja, stimmt.«
»Kein einziges Mal? Du lieber Gott. Und Bus?«
»Bus bin ich einmal gefahren. Da musste ich für Mutter nach March, und am Dogcart war das Rad gebrochen.«
»Aber fährst du nicht zum Einkaufen? Oder sonntags mal raus?«
»Manchmal laufe ich nach Manea, aber wir brauchen nicht viel, wir haben ja auf dem Hof alles, was wir brauchen. Sonntags fahren Mutter und ich im Einspänner in die Kirche.« Hannah wand sich einen Zipfel ihres Kittels um die Hand. »Ich muss zurück. Mutter wartet sicher schon auf ihren Tee.« Ruby konnte ihr gerade noch einen Abschiedskuss geben, dann rannte sie schon zum Hof zurück.
Auf dem FuÃmarsch zurück nach Manea bemerkte Ruby die Ackergäule, die sich dem Ende des Felds näherten. Sie winkte George Drake zu. Er kam zur Hecke. Er war ein magerer Bursche mit blauen Augen und einer sommersprossigen Nase. Auf der einen Gesichtshälfte hatte er einen roten Striemen, Erinnerung an Maude Quinns harte Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte Ruby ihn.
»Ein paar blaue Flecken, mehr nicht.« Er lachte. »Meine Mam sagt immer, ich hätte eine Eisenbirne.« Er wurde ernst. »Aber sie ist wirklich eine böse alte Hexe«, brummte er und sagte sogleich: »Entschuldigen Sie, Miss. Das sollte ich nicht sagen â sie ist Ihre Tante, oder?«
»Ja, die Strafe für meine Sünden. Warum bleibst du hier? Wie hältst du das aus? Warum haust du nicht einfach ab?«
»Das geht nicht. Sie haben es doch selbst gehört â wir ï¬iegen raus. Wir wohnen in einem der Gesindehäuser. Mein Vater arbeitet immer schon für die Quinns. Als er acht war, hat er die Vögel von den Feldern verjagt. Ich bin
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