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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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West Brompton reihte sich Ruby in die Schlange von Männern, Frauen und Kindern ein, die darauf warteten, eine Gasmaske angepasst zu bekommen. Ihr Blick wanderte über die Bilder an den Wänden, die mit Wachskreide gemalten Strichmännchen und die Drucke von Meeresstrand und Bauernhof, idyllisch, sonnenhell, friedlich. Die Gasmaske, die sie sich über den Kopf zog, roch nach Gummi, und die Säuglinge schrien, als sie in die für sie vorgesehenen Schutzbeutel verpackt wurden. Ihre Mütter begannen empört und erschrocken zu schimpfen, als sich herausstellte, dass die Schutzbeutel nicht für alle Kleinen reichten. Auf dem Heimweg schwang sich Ruby den hässlichen Pappkarton mit der Gasmaske über die Schulter und kam sich vor wie in einem Film.
    Ganz langsam, aber gnadenlos ergriff etwas Fremdes, Beängstigendes vom alltäglichen Leben Besitz. Der Krieg zeigte sein Gesicht – Stapel von Sandsäcken an den Mauern öffentlicher Gebäude, eine Fliegerabwehrkanone auf der Westminster Bridge, Maschinengewehrstellungen auf den Dächern von Kraftwerken machten die Angreifbarkeit der Stadt noch deutlicher. Das Vertraute bekam bedrohliche Züge. Ein Flugzeug hoch oben am Himmel weckte Erinnerungen an Zeitungsbilder zerbombter Städte wie Madrid oder Guernica. Die von Gräben durchfurchten Rasenflächen der königlichen Parkanlagen sprachen von einer unsicheren Zukunft. Sie fuhr zur Arbeit, sie ging einkaufen, sie traf sich mit ihren Freunden, doch stets begleitete Ruby das Gefühl, dass London, ihr London, auseinanderbrach, zerfiel, von Feuer verschlungen wurde.
    Am Ende des Monats flog Neville Chamberlain nach München, um einen letzten verzweifelten Versuch zur Erhaltung des Friedens zu unternehmen. Als er am folgenden Tag zurückkehrte, schwenkte er ein Blatt Papier, das, wie er verkündete, Frieden versprach. Die Krise war bewältigt, der Preis für den Frieden die Auslieferung des Sudetenlands an Deutschland, und die Erleichterung war zunächst beinahe greifbar. Sie konnten sich beruhigt wieder über das Wetter oder die Verspätung der Busse beschweren.
    Doch nach den ersten paar Tagen schien sich die Erleichterung zu verflüchtigen, von Unbehagen, vielleicht auch Scham verdrängt. Außerdem hingen die Gasmasken immer noch an den Garderoben, die Flugzeuge hinterließen nach wie vor ihre Kondensstreifen am Himmel.

    Der Nineveh-Hof: kläffende Hunde und zischende Gänse, feuchte Leintücher schlaff an den Leinen, die zwischen den Apfelbäumen gespannt waren.
    Ruby traf ihre Tante Maude hinter dem Haus an. Ein Junge von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren stand vor ihr. Hinter dem Fenster der Spülküche war verschwommen Hannahs Gesicht zu erkennen, bleich und verängstigt.
    Â»Ein ganzes Dutzend Eier«, schrie Maude den Jungen an. Zerbrochene Eierschalen schwammen in klebrigem Gelb auf den Pflastersteinen, und ein Korb war unter den alten Stuhl neben der Spülküchentür gerollt. »Weißt du eigentlich, was mich das kostet, du gedankenloser dummer Kerl?« Der Stock flog hoch und traf den Jungen krachend am Kopf. »Ich zieh dir jeden Penny vom Lohn ab.«
    Und wieder schwang sie den Stock in die Höhe, doch diesmal packte ihn der Junge. Er entwand ihn Maude und warf ihn weg.
    Maude starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Heb ihn auf«, befahl sie leise.
    Â»Nein.«
    Â»Heb ihn auf, George Drake, sonst fliegst du mitsamt deiner ganzen Familie bis spätestens heute Abend aus dem Haus.«
    Nichts rührte sich. Dann hob der Junge den Stock auf und reichte ihn Maude.
    Â»So, und jetzt mach das Pflaster sauber. Aber gründlich. Ich möchte nicht ein Fitzelchen Eierschale auf diesen Steinen mehr sehen.« Erst jetzt wurde Maude auf Ruby aufmerksam. »Du bist spät dran«, fuhr sie sie an. »Mittag habe ich gesagt. Das Essen wird schon kalt sein.«
    Sie gingen ins Haus. Maude brauchte einen Stock, um ihre Massen fortzubewegen. Das Fett fiel ihr in schwammigen Falten an Hals, Handgelenken und Fesseln herab. Ihr Haar war grau geworden, und die Augen lagen wie kleine schwarze Kiesel in dem aufgedunsenen Gesicht.
    Wie Maude schien das Haus Opfer von Alter und Verfall. Eine dünne Staubschicht lag grau auf den kleinen Fensterscheiben, die Zimmer waren kalt und feucht. Ruby war bei ihren halbjährlichen Besuchen in Nineveh immer wieder erstaunt, wie

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