Das Haus in den Wolken
bei Mrs. Quinn, seit ich mit zwölf von der Schule abgegangen bin. Ich hatte gar keine Wahl, verstehen Sie, sonst wären wir alle rausgeï¬ogen.«
»Gibt es denn keine anderen Höfe? Wo es ein bisschen menschlicher zugeht?«
»Hier in der Gegend gibtâs nirgends Arbeit, Miss. Wir haben harte Zeiten.«
Ãberall zeigte das Land um sie herum Spuren der Vernachlässigung. Schilf wuchs in den Entwässerungsgräben, und die Hecken waren verwildert, Schlehen und WeiÃdorn reckten ihre dornigen Ãste in alle Richtungen. Am Vormittag, auf dem Weg von Manea nach Nineveh, war Ruby an brachliegenden Feldern und verfallenden Häusern mit fauligen Strohdächern vorübergekommen, die sicherlich kaum noch vor den Elementen schützten.
George wischte sich mit dem Handrücken den Schweià von der Stirn. »Das ist schon seit Jahren so. Viele von den kleineren Höfen stehen leer â und keiner will sie kaufen. Mein Onkel Walter hat im Sommer mit dem Fahrrad einen Hof nach dem anderen abgeklappert, weil er Arbeit brauchte, aber alle haben sie ihm gesagt, dass sie nichts für ihn haben. Ich habe vier kleine Brüder, Miss. Die säÃen alle auf der StraÃe, wenn ich Mrs. Quinn sagen würde, was ich von ihr halte. Aber eines weià ich«, fuhr er entschlossen fort. »Sobald ich was Besseres ï¬nde, bin ich hier weg. Um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Am schlimmsten hatâs die arme Hannah.«
Auf der Fahrt nach Cambridge durchquerte der Zug die Flussauen zwischen dem Hundred Foot Drain und dem Old Bedford River. In den Mulden hatte sich schon das erste Wasser gesammelt, es kräuselte sich wie graue Seide im Licht der späten Nachmittagssonne. Der Zug nach London war voll, und sie drängte sich auf der Suche nach einem Sitzplatz zwischen den im Gang stehenden Leuten von Abteil zu Abteil. An der Lokomotive angelangt, kehrte sie um. Auf dem Rückweg warf sie einen Blick in die Erste-Klasse-Abteile. Da gab es freie Plätze in Mengen.
Sie war wie immer nach diesen anstrengenden Besuchen in Nineveh müde und angespannt. Als sie den Schaffner kommen sah, blieb sie auf dem Gang stehen und schaute zum Fenster hinaus, bis er in den nächsten Wagen verschwunden war. Dann trat sie in eines der Abteile, in dem, hinter der Times verborgen, nur ein Fahrgast saÃ.
Ruby knöpfte ihren Mantel auf und lieà sich erleichtert auf den Sitz fallen. Als sie ein Buch aus ihrer Tasche nahm, sagte der andere Fahrgast: »Keine Sorge, ich verrate es nicht.«
»Was denn?«
»Dass Sie mit einem Dritte-Klasse-Billet Erster Klasse fahren.«
»Ich habe für einen Sitzplatz bezahlt«, entgegnete sie angriffslustig. »Ich sehe nicht ein, warum ich bis London stehen soll.«
»Natürlich. Sie haben absolut recht.«
Der Mann senkte die Zeitung, sodass sie ihn richtig sehen konnte. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, leicht vorspringende Wangenknochen und eine kräftig ausgeprägte Kinnpartie. Der graue Anzug mit Weste und dunkelroter Seidenkrawatte war elegant und zweifellos von einem teuren Schneider. Im Gepäcknetz lagen ein dunkelblauer Mantel und ein schwarzer Hut.
Der Mann betrachtete Ruby aufmerksam, bevor sein Blick zu der Tasche zu ihren FüÃen hinunterglitt. »Nehmen Sie immer Gummistiefel mit, wenn Sie Cambridge besuchen?«
»Ich war nicht in Cambridge. Ich war in den Fens.«
»Ach, du meine Güte. Wozu denn das?«
»Ich habe meine verrückten Verwandten besucht.«
Sein Lächeln war schief, was die eine Seite seines Gesichts freundlich amüsiert, die andere eine Spur grimmig wirken lieÃ.
»Sie haben verrückte Verwandte?«, fragte er.
»Hat die nicht jeder?«
»Wahrscheinlich«, räumte er ein. »Warum besuchen Sie sie? Aus Pï¬ichtgefühl?«
»Nein, eher aus Schuldgefühlen, glaube ich. Ich fahre jedes halbe Jahr nach Nineveh. So lange dauert es ungefähr, bis die Schuldgefühle so schlimm werden, dass ich sie nicht mehr aushalten kann.«
»Sind Sie denn katholisch?«
»Nein. Ich bin gar nichts. Warum?«
»Wegen der Schuld. Damit haben es die Katholiken ja ganz besonders. Allerdings liefern sie auch gleich die Beichte, eine ziemlich praktische Einrichtung, wenn man die Schuld wieder loswerden will. Ich frage mich, wie die Nicht-Katholiken ohne Beichte zurechtkommen.«
»Glauben Sie das denn alles?«
»Nun,
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