Das Haus in den Wolken
da Sie fragen â nicht mehr, nein.«
»Entschuldigen Sie. Das war taktlos. Beim Essen spricht man ja nicht über Religion.«
Er lachte. »Richtig.«
»Und ebenso wenig über Politik.«
»Die Politik ist mein Geschäft. Die schleicht sich leider ziemlich oft in meine Gespräche, auch beim Essen.«
»Sind Sie Abgeordneter?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich arbeite im Auswärtigen Amt. Sehr interessant. Ich komme viel herum. Und Sie?«
Ruby erzählte ihm, was sie tat. »Ah«, sagte er, »da kennen Sie sicher Leonard Speers. Wir waren zusammen im Trinity Hall.«
»Kennen ist übertrieben. Ich sehe ihn hin und wieder mal im Korridor vorbeirauschen. Es ist ein bisschen so, als würde einem der Blick auf Gott vergönnt.«
»Ja, Leonard hatte immer schon so etwas Erhabenes an sich, das stimmt. Immer fern und distanziert, schon als wir noch im ersten Semester hockten.«
»Ich nehme an, Sie waren nicht auf Besuch bei verrückten Verwandten?«
»Nein, ich war bei meinem ehemaligen Tutor. Mein erster freier Nachmittag seit Monaten nach der ganzen Aufregung.«
»München, meinen Sie?«
»Hm. Ich hielt es für das Gescheiteste, die Gelegenheit zu nutzen, ehe das alles von Neuem hochkocht.«
»Glauben Sie denn, dass es dazu kommen wird?«
»Aber natürlich. Sie nicht?«
Ruby schaute zum Fenster hinaus. Alles, selbst die hässlichsten klinkerroten Reihenhäuser und die tristesten kleinen Dörfer, kam ihr jetzt unendlich kostbar vor. »Doch«, antwortete sie.
»Es hat ja keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken«, sagte er forsch. »Das haben wir lange genug getan. Es ist uns gelungen, uns auf Kosten der Tschechoslowakei etwas Zeit zu verschaffen, die sollten wir nutzen.«
»Finden Sie, wir hätten der Tschechoslowakei beistehen sollen?«
»Moralisch gesehen, ja. Was wir getan haben, war feige und verwerflich. Es war Verrat. Hitler ist ein Tyrann, und Tyrannen sollte man bekämpfen.«
Unwillkürlich musste Ruby an den hässlichen Auftritt in Nineveh denken, wie Tante Maude ihren Knecht mit dem Stock geschlagen hatte. Sie verspürte Widerwillen, vor allem gegen sich selbst. Sie war nicht für George Drake eingetreten, sie hatte Maude Quinn nicht bekämpft, obwohl die zweifellos eine Tyrannin war.
»Ich nehme an«, sagte sie nachdenklich, »wenn man nichts tut, kommt das zum Teil daher, dass man nicht glauben kann, dass Menschen zu solchen Gräueln fähig sind. Wir sind wie gelähmt, zu entsetzt, um etwas zu tun. Zu höflich, könnte man beinahe sagen.«
»Genau. Chamberlain und Leute seines Schlags scheinen zu glauben, dass Hitler trotz allem ein Ehrenmann ist und sich letztlich an die Regeln der Fairness halten wird. Sie sind offenbar unfähig zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich ist. Und praktisch gesehen, hatten wir kaum eine Alternative.« Er warf Ruby einen Blick zu. »Sie sind doch keine Paziï¬stin?«
»Nein.«
»Gegen Paziï¬smus ist ja in der Theorie nichts einzuwenden â alles edel und gut â, aber uns hat er unangenehm ins Hintertreffen gebracht.« Er sah sie wieder mit diesem schiefen Lächeln an. »In den vergangenen Jahren war die gute alte britische Ãffentlichkeit anscheinend überzeugt, Flugzeuge bauen hieÃe den Krieg herausfordern. «
»Sie glauben nicht, dass das stimmt?«
»Na ja, eigentlich heiÃt es doch, Säbelrasseln schreckt ab. Aber Sie haben vielleicht nicht ganz unrecht. Wenn man einen Haufen schöne neue Waffen produziert, wollen alle damit spielen.« Er schnippte ein unsichtbares Stäubchen von der messerscharfen Bügelfalte seiner Hose. »Unsere Aufrüstungsbemühungen sind für die armen Tschechen jedenfalls zu spät gekommen. Und mit unserem Verrat an ihnen haben wir uns selbst die Sache viel schwerer gemacht.«
»Weil die Tschechoslowakei geschwächt ist, meinen Sie?«
»Geschwächt? Sie ist überhaupt nicht mehr zu verteidigen. Wir haben genau den Teil des Landes aufgegeben, der eine starke Grenze hat. Jetzt kann Hitler ungehindert einmarschieren.« Sein Lächeln trübte sich. »Und das wird er auch tun.«
»Wann?«
»Sehr bald, vermute ich. Es ist nur eine Frage der Zeit. Er will die tschechischen Rüstungsbetriebe haben. Kommen Sie, machen Sie nicht so ein niedergeschmettertes Gesicht. Sie
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