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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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verachten?
    Hindernisse kamen ihnen in den Weg, trennten sie voneinander: eine Frau mit einem Kinderwagen, ein Radfahrer auf dem Gehsteig, ein Briefkasten. »Es hat mir so leidgetan, vom Tod deines Vaters zu hören«, sagte sie. »Er fehlt dir sicher sehr. War er lange krank?«
    Â»Er hatte Bronchitis. Deshalb bin ich damals nach Wien zurück, weil ein Freund mir schrieb, dass es ihm nicht gut ging. Aber er ist nicht an der Bronchitis gestorben. Mein Vater wurde in einer Seitengasse von Wien zu Tode geprügelt.«
    Â»Was?« Sie starrte ihn fassungslos an. »Oh, Anton, nein.«
    Â»Ein halbes Dutzend junger Schläger, die einen alten Mann zu Tode prügeln – mutig, nicht?«
    Â»Wie grauenvoll. Das tut mir entsetzlich leid.«
    Er war unter einer Straßenlampe stehen geblieben. Sein Mantelkragen war hochgeklappt und sein Haar feucht vom Nebel. Sie wollte zu ihm treten, aber da ging er schon weiter, und Seite an Seite, jedoch ohne einander zu berühren, schlugen sie den Weg zur Charing Cross Road ein.
    Â»Seinen Mördern ist nichts passiert«, sagte er. »Ich habe nicht einmal ihre Namen erfahren. Es waren entweder Nazis oder Sadisten, die ihren Spaß haben wollten – ich werde es vermutlich nie erfahren.«
    Â»Und wie ist es dir ergangen, Anton?«
    Â»Ich war im Gefängnis, als mein Vater starb.«
    Â»Warum denn? Was ist passiert?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Warum sie mich ins Gefängnis gesteckt haben? Weil ich nicht mehr in die Zeit passe, vielleicht. Weil ich nicht mehr in dieses Land passe, wo man auf offener Straße ungestraft alte Männer totschlagen darf. Das ist nicht mehr mein Wien.« Sein Ton war erregt.
    Sie überquerten den Trafalgar Square. Rund um den Sockel von Nelsons Säule waren Sandsäcke gestapelt; Nelson selbst war im Nebel unsichtbar. Anton erzählte Sara, dass Kurt von Schuschnigg, der österreichische Bundeskanzler, zunächst versucht hatte, Hitlers Druck standzuhalten und den Einfluss der nationalsozialistischen Partei innerhalb der österreichischen Grenzen zu beschneiden.
    Â»Aber am Ende standen wir allein«, sagte er. »Schuschnigg blieb nichts anderes übrig, als den Deutschen den Einzug in Wien zu gestatten. Er leistete keinen Widerstand, weil er wusste, dass das zu Blutvergießen geführt hätte. Ich habe keine Heimat mehr, Sara. Das Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, ist gedemütigt und vernichtet worden. Schuschnigg ist eingesperrt. Österreich ist jetzt Teil des deutschen Reichs. Unsere Armee steht unter Hitlers Oberbefehl. Mein Heimatland existiert nicht mehr.«
    Schweigend setzten sie den Weg zur Themse fort. Trotz Rauch und Benzindunst, die sich im Nebel festzusetzen schienen, nahm Sara den unverwechselbaren leicht salzigen Geruch des Flusses wahr, der sie stets in ihre Kindheit zurückversetzte und die Besuche im Lagerhaus ihres Vaters am Butler’s Wharf wieder lebendig werden ließ. Schiffe und Brücken waren im Nebel verborgen, aber sie hörte die tiefen klagenden Töne eines Nebelhorns und den sanften Anschlag des Wassers an den Piers.
    Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Willst du nicht irgendwo einkehren? Du frierst doch sicher.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einen warmen Mantel an.«
    Â»Du bist vermutlich die einzige Kellnerin in London, die im Pelzmantel zur Arbeit kommt.«
    Sie sah ihn an, konnte ihren Blick nicht von ihm lösen, während sie sich ins Gedächtnis rief, was vertraut war, und zu erkennen suchte, was sich verändert hatte; prüfte, ob das Grau seiner Augen, sein Lächeln, die Art, wie er sich mit einer Hand die Stirn rieb, wenn er verwundert oder bestürzt war, ihrer Erinnerung entsprachen.
    Â»Und darum bist du nach England gekommen?«
    Â»Ja.«
    Â»Allein?«
    Â»Natürlich.«
    Â»Ich dachte, du hättest in Wien vielleicht jemanden gefunden.«
    Â»Nein, das kam niemals infrage. Ich bin nach England gekommen, um dich zu finden, Sara.«
    Â»Wirklich?«
    Â»Ich habe Tag und Nacht an dich gedacht, während ich im Gefängnis war. Die Gedanken an dich haben mich am Leben erhalten, sie haben mir die Kraft gegeben zu kämpfen. Und ich hoffte –«
    Â»Was, Liebster?«
    Â»â€“ du hättest auf mich gewartet. Ich wusste ja, dass du schon bald volljährig werden würdest. Als ich dann erfuhr, dass du geheiratet hattest, habe ich

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