Das Haus in den Wolken
Neuigkeit, dass Sara jetzt mit Anton Wolff zusammenlebte, hatte seine Laune auch nicht gerade gehoben. Mit seinem Verhalten bestrafte er sie beide, dachte Isabel; in letzter Zeit schien ihr Leben in Schubfächer eingeteilt zu sein, ein Fach für jedes Kind und ein weiteres für Richard, alle fein säuberlich voneinander getrennt.
Das Konzert ging zu Ende, die Leute applaudierten. Vor der Wigmore Hall verabschiedete Isabel sich von ihrer Freundin und stieg in den Bus nach Hause. Als sie dem Schaffner das Fahrgeld gab, fragte sie sich, wie sehr die Kompromisse, die sie vor so langer Zeit eingegangen war, ihren Lebensweg vorgezeichnet hatten. Welche anderen Wege hätte sie beschreiten, welch anderer Mensch hätte sie werden können? Wie sehr hatte sie sich wirklich verändert? Gab es die Isabel von früher noch unter all den Wandlungen, die Alter, Reichtum und Erfahrung mit sich gebracht hatten? Würde der Mensch, der sie geworden war, überleben, was sie tun musste?
Doch welche Wahl hatte sie denn? Sie lebte auf Messers Schneide und wusste nicht, wie lange sie das noch ertragen konnte. Und es wäre besser, sehr viel besser, wenn Richard die Wahrheit aus ihrem Munde erfahren würde statt von Alï¬e Broughton oder â unwillkürlich schauderte sie, und die Frau neben ihr blickte sie verwundert an â aus der Zeitung.
Das letzte Jahr war schwierig gewesen. Erst John Temples Tod, und jetzt hatte sich in der letzten Woche auch noch herausgestellt, dass ein Angestellter die Geschäftsbücher fälschte. Es fehlten keine groÃen Summen, doch es war ein einziges Durcheinander gewesen; die Polizei musste eingeschaltet werden, und die Sache hatte einen schalen Beigeschmack für Richard. Lang war es her, dass er all seine Angestellten beim Namen gekannt und genau gewusst hatte, mit was für einem Menschen er es zu tun hatte. Er vermisste John Temple, den einzigen seiner Leute, der ihn von Anfang an begleitet hatte. Er vermisste den sauberen, frischen Geruch von Tee und die Aufregung am Hafenkai, wenn eine neu eingetroffene Schiffsladung gelöscht wurde. Heute saà er zu viele Tage in seinem Büro und bei Besprechungen mit Rechtsanwälten, Buchhaltern oder in irgendwelchen Ministerien. Die Geschäfte liefen hervorragend: Nach der Münchener Krise hatte die Wiederaufrüstung eingesetzt, und die Nachfrage nach Maschinenteilen war so enorm, dass er oft bis spät in den Abend hinein arbeitete und manchmal sogar an den Wochenenden. Er hätte sich freuen sollen, doch er fühlte sich nicht im Einklang mit sich und seiner Arbeit, spürte eine seltsame Distanz zu den Geschäften, in denen er sonst so vollkommen aufgegangen war.
Er nahm einen Stapel Papiere mit nach Hause, die er am Abend durchsehen wollte. Isabel begrüÃte ihn, als er ins Vestibül trat, dann ging sie, um nach dem Abendessen zu sehen.
»Wo ist Mrs. Finch?«, fragte er, als sie aus der Küche zurückkam.
»Ich habe ihr den Abend freigegeben.«
Er zog den Stöpsel von der Whiskykaraffe. »Möchtest du auch einen?«, fragte er, und sie schüttelte den Kopf.
»Nein, danke.« Sie zögerte, wirkte nervös. »Richard, wir müssen miteinander reden.«
Er dachte an seine Papiere â er hatte noch vor dem Essen beginnen wollen, bei einem Whisky. »Hat das nicht Zeit bis zum Abendessen?«
»Nein, leider nicht.«
Er setzte sich. »Na gut.«
Sie verschränkte die Finger. »Ich werde erpresst«, sagte sie.
Er stieà ein kurzes ungläubiges Lachen aus. »Erpresst?«
»Ja.«
Er fragte sich, ob sie übertrieb oder ihn veralberte. Aber weder das eine noch das andere war ihre Art.
»Erpresst⦠von wem? Warum? Seit wann?«
»Er heiÃt Alï¬e Broughton und fordert Geld von mir. Zum ersten Mal kam er gegen Ende Juni.«
Juni, dachte er. Jetzt war November. »Du hast diesem Schurken doch hoffentlich kein Geld gegeben Isabel, oder?«
»Doch, leider.«
»Wie viel?«
»Ãber einhundert Pfund.«
»GroÃer Gott. Warum denn nur?«
»Weil er etwas über mich weiÃ. Etwas Schlimmes.«
»Was?« Er versuchte, die drückende Atmosphäre mit einem Scherz aufzulockern. »Hast du etwa die Mitgliedsbeiträge des Kunstvereins unterschlagen?«
»Etwas Schlimmes«, sagte sie erneut, »das geschehen ist, bevor ich dich kennengelernt habe. Alï¬e Broughton ist mein
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