Das Haus in den Wolken
Deutsche Truppen rückten in Belgien und Holland ein, Hilfsgesuche der niederländischen und der belgischen Regierungen erreichten London am frühen Morgen. Im Parlament kam es zu einer entscheidenden Umwälzung. Nur wenige Tage zuvor hatte sich im Rahmen einer Debatte über die Schlacht um Norwegen der konservative Abgeordnete I.S. Amery mit einem Zitat von Cromwells Worten an das Rumpfparlament von Neville Chamberlain gewendet: »Nehmt Euren Abschied, sage ich, und lasst uns nichts mehr mit Euch zu tun haben. Im Namen Gottes, geht.« Die Rufe nach Chamberlains Rücktritt mehrten sich und schwollen schlieÃlich zu einer Flutwelle an, die nicht mehr aufzuhalten war. Winston Churchill löste Chamberlain an der Spitze einer Allparteienregierung ab.
Europa war dabei, sich selbst zu zerï¬eischen. Trotz entschlossener Gegenwehr wurden die Niederlande und Belgien von den deutschen Truppen überwältigt. Zum zweiten Mal in fünfundzwanzig Jahren waren Züge von Menschen, die ihre Besitztümer in Autos, auf Karren, in Kinderwagen und auf dem eigenen Rücken mit sich trugen, auf der Flucht vor einer einfallenden feindlichen Armee. Truppen überzogen Belgien, sie rückten durch die Wälder der Ardennen vor, überquerten die Maas und die Dijle. Panzer knickten Bäume, als wären es Streichhölzer, während von der Luft aus die deutschen Flieger die langen Flüchtlingszüge unter Maschinengewehrfeuer nahmen. Königin Wilhelmina, die infolge der deutschen Bombardierungen nicht zu ihren Truppen in Seeland stoÃen konnte, schiffte sich nach GroÃbritannien ein, um zusätzliche Luftnahunterstützung zu erbitten. Sie landete in Harwich und nahm den Zug nach London, wo König Georg der VI . sie am Bahnhof Liverpool Street empï¬ng.
12. Mai: Deutsche und österreichische Bürger, die in den Küstenbezirken ansässig waren, wurden interniert.
Sara und Anton lagen im Bett. »Von dir getrennt zu werden, das wäre das Schlimmste.« Sie legte ihre Hand an sein Gesicht. »Aber dazu wird es nicht kommen, nicht wahr?«
»Vielleicht doch«, meinte er. Die Boulevardzeitungen machten ein Riesengeschrei um die fünfte Kolonne, den heimlichen Feind im Inneren.
»Nein, das könnte ich nicht ertragen. Nicht schon wieder.« Sie drängte sich an ihn, Rücken an Brust, und er schloss fest die Arme um sie. Mit der Hand folgte er den Konturen ihres Körpers, den Rundungen von Brust, Bauch und Schenkel. Sie gab sich seinen Zärtlichkeiten hin und schloss aufseufzend die Augen, als er in sie eindrang.
Später, als das reiche Glücksgefühl nach der Umarmung abgeklungen war, dachte er an Gefängnisse und prügelnde Wärter, und eine entsetzliche Angst erfasste ihn. Nein, dachte er. Nein, nicht noch einmal.
Sie machten Pläne. Sie zogen nur ihre engsten Freunde ins Vertrauen, Ruby, Edward Carrington und Peter Curthoys, Menschen, denen Antons Wohl am Herzen lag, die vielleicht vorhersagen konnten, woher der Wind wehte.
Auf langen FuÃmärschen kreuz und quer durch London hielten sie nach leeren Grundstücken Ausschau, nach verlassenen Häusern abseits der HauptstraÃen. Er brauchte einen Ort, an dem er sich verstecken, an dem er das Ganze durchstehen konnte, bis alles wieder besser wurde. Einen Ort, dachte er, an dem er den Himmel sehen konnte. Er würde es schon aushalten können, wenn er nur ein Stück Himmel sah.
14. Mai: Die Luftwaffe bombardierte Rotterdam. Mehr als achthundert Menschen starben, als Bomben, die eigentlich die Brücken zerstören sollten, im Stadtzentrum explodierten.
Um den Widerstand zu stärken, landeten britische Soldaten in der niederländischen Hafenstadt Imuiden. Zur gleichen Zeit trafen dort zweihundert Juden in Bussen ein und bestiegen ein Schiff, um über die Nordsee nach GroÃbritannien auszureisen, während hinter ihnen die Ãlrafï¬nerien in Flammen standen. Wenig später kapitulierten die Niederlande.
Deutsche Truppen rückten weiter in breiter Front durch Belgien und Nordfrankreich vor, und überall fürchtete man, sie würden zu den Kanalhäfen vorstoÃen und die Armeen der Alliierten umzingeln. Sehr schnell waren Rommels Truppen achtzig Kilometer tief nach Frankreich eingedrungen. Der französische Premierminister, Paul Reynaud, telefonierte mit Winston Churchill und teilte ihm mit, dass die StraÃe nach Paris jetzt offen
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