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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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und Kartons voller Rechnungen und Notizzetteln, auf denen Josiah Quinn die Finanzen des Hofs durchgerechnet hatte. Ihre Mutter hatte den jungen Mädchen verboten, die Kartons anzurühren. Doch im Winter, nachdem ihre Mutter bettlägerig geworden war, hatten sie angefangen, mit den alten Papieren das Kaminfeuer anzuheizen. Und sie nahmen auch Holzscheite vom Stapel und Essen aus der Speisekammer, ohne vorher zu fragen. Ihre Mutter wäre fuchsteufelswild geworden, wenn sie von den Papieren, den Holzscheiten, den Scheiben Brot und den Äpfeln gewusst hätte. Doch ihre Mutter wusste es nicht, denn sie war ans Bett gefesselt; ihr Austausch mit der Welt beschränkte sich auf das Klopfen mit dem Stock, und Hannah hatte zu viel Angst, um etwas zu sagen.
    Schon in den letzten Lebenswochen ihrer Mutter fühlte sich Hannah öfter unwohl. Manchmal spürte sie einen stechenden Schmerz im Bauch, und ihr wurde übel. Doch dann verging er wieder, und sie vergaß ihn fast, bis er einige Wochen später erneut auftauchte. Wenn der Schmerz richtig schlimm wurde, wagte sie kaum, sich zu bewegen, damit er nicht noch schlimmer wurde. Dann lag sie reglos und zusammengekrümmt im Bett, bis er weg war – jedenfalls solange ihre Mutter sie nicht brauchte.
    Als Maude Quinns Tod näherrückte, wurde sie so schwach, dass sie den Stock nicht mehr benutzen konnte, und so saß Hannah Tag und Nacht an ihrem Bett. Es war zu kalt draußen, um ein Fenster zu öffnen, und Hannah hatte das Kaminfeuer angefacht, damit ihre Mutter es warm hatte, daher war es stickig im Zimmer. Ein abgestandener Geruch von schmutziger Bettwäsche hing in der Luft – ihre Mutter konnte sich nicht mehr auf die Seite drehen, deshalb hatte Hannah die Laken schon länger nicht gewechselt; denn sogar jetzt, in ihrem geschwächten Zustand, war Maude Quinn immer noch so schwer, dass Hannah sie nicht hochheben konnte. Und dann dieser entsetzliche Gestank von den Geschwüren an den Beinen ihrer Mutter, die einfach nicht heilen wollten, egal, wie oft Hannah sie badete und die Verbände wechselte. Ihre Mutter schlief jetzt die meiste Zeit und stöhnte, wenn sie erwachte.
    Eines Nachts im Februar tobte ein Sturm. Die Wipfel der Bäume krümmten sich windgepeitscht, und Regenwasser füllte die Abflusskanäle. Die beiden jungen Freiwilligen waren zu einem Tanzvergnügen in Ely ausgegangen, Hannah und ihre Mutter waren ganz allein im Haus. Ihre Mutter hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war bleich und eingesunken. Hannah lauschte dem Wind und den Atemzügen ihrer Mutter.
    Als sie aufsah, bemerkte sie, dass ihre Mutter die Augen aufgeschlagen hatte. »Mutter?«, fragte sie.
    Die Lippen ihrer Mutter bewegten sich, formten Worte. Hannah beugte sich vor und versuchte zu verstehen, was sie sagte.
    Â»Der Bauernhof…«
    Â»Ja, Mutter?«
    Â»Du musst hierbleiben. Das weißt du. Du darfst Nineveh nie verlassen. Versprich mir das.«
    Mit klauenartiger Hand ergriff sie Hannahs Finger. »Ja, Mutter«, flüsterte Hannah. »Ich verspreche es.«
    Maude Quinn schloss die Augen, der Griff ihrer Hand lockerte sich. Im Laufe des Abends wurden ihre Atemzüge immer angestrengter und röchelnder. Ihr Gesicht erschien Hannah wie aus Wachs, von gelblich weißer Farbe, die Haut blutleer. Das Geräusch ihres Atems erfüllte das Zimmer, sodass Hannah das Heulen des Windes draußen gar nicht mehr wahrnahm. Es gab nur noch das Ticken der Uhr und die Atemzüge ihrer Mutter, die in immer größeren Abständen kamen. Bis sie schließlich ganz aussetzten.
    Hannah blieb auf der Stuhlkante sitzen und wartete. Aber worauf eigentlich? Darauf, dass ihre Mutter wieder zu atmen anfing, sich bewegte, sprach, schimpfte, sie schlug. Es war ihr unbegreiflich, dass ein so allgegenwärtiger Mensch für immer aus dem Leben gegangen sein sollte. Die Augen ihrer Mutter waren leicht geöffnet, wie schmale, leblos schwarze Schlitze. Als Hannah ihr schaudernd die Augen zudrückte, erwartete sie, dass ihre Lider sich jeden Augenblick bewegen, dass die Hand ihrer Mutter auffahren und sie schlagen und dass sie mit wutentbrannter Stimme schreien würde: »Achtloses Mädchen. Nun, du weißt ja, was mit achtlosen Mädchen geschieht, nicht wahr?«
    Dann flog, vom stürmischen Wind geschüttelt, ein Fenster auf und knallte gegen die Wand. Ein Schwall eiskalter Luft wehte ins Zimmer,

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