Das Haus in den Wolken

schüttelte den Kopf. »Mutter hätte nie einen Andersgläubigen geheiratet.«
    Riesige Wasserlachen überschwemmten das tief liegende Land um die niedrige Anhöhe herum, auf der Nineveh erbaut war. Irgendwer hatte Holzbohlen ausgelegt, schmale Stege, über die sie im Gänsemarsch gingen, bis sie weiter oben den Pfad zwischen den Feldern erreicht hatten. Dort wehte der Wind so stark, dass sie ihre Hüte festhalten mussten. Als sie den Hof betraten, scheuchte Hannah die Hunde und Gänse fort.
    Ruby wollte Hannah gerade ins Haus folgen, als jemand sie am Ärmel zog.
    Â»Miss Chance«, sagte Mrs. Drake. »Ich habe gehört, dass Sie Hannah nach dem alten Josiah Quinn gefragt haben.« Sie hatte ihre Stimme gesenkt. »Ich finde, Sie sollten es erfahren.«
    Â»Was erfahren?«, fragte Ruby.
    Â»Warum er nicht auf der Gedenktafel verzeichnet ist. Josiah Quinn war ein Deserteur, wissen Sie.«
    Eine steife Brise blies Ruby das Haar ins Gesicht. Sie strich es zurück und sah Mrs. Drake verwundert an. »Ein Deserteur? Sind Sie sicher, Mrs. Drake?«
    Â»Oh, da bin ich ganz sicher. Das ganze Dorf weiß es. Maude Quinn hat Ihnen erzählt, dass er in einer Schlacht gefallen ist, nicht wahr?« Mrs. Drake schüttelte den Kopf. »Da hat sie gelogen.«
    Â»Was ist denn geschehen?«
    Â»Josiah Quinn kam kurz vor Ende des Krieges auf Urlaub und ist nie in die Armee zurückgekehrt. Die Militärpolizei ist hier gewesen und hat nach ihm gesucht, aber er ist nie wieder aufgetaucht. Keiner von uns hat je wieder etwas von ihm gesehen. Und falls Maude Quinn etwas gewusst haben sollte, so hat sie es keinem erzählt.« Mrs. Drake verzog grimmig den Mund. »Es war kein großer Verlust, wissen Sie. Josiah Quinn war ein durch und durch bösartiger Mensch, habgierig und geizig. Ich glaube kaum, dass Mrs. Quinn sein Verschwinden bedauert hat.«
    Â»Sie haben sich also nicht geliebt?«
    Â»Geliebt?«, fragte Mrs. Drake verächtlich. »Sie hat ihn gehasst. Und das aus gutem Grund, muss ich sagen. Wenn dieser Mann in der Nähe war, konnte sogar Mrs. Quinn einem leidtun. Maude hat ihn des Geldes wegen geheiratet, und ich wage zu behaupten, dass sie es ein Leben lang bereut hat. Er hat sie seine Faust spüren lassen, sobald sie den Mund aufmachte – und Schlimmeres. Manchmal hat er sie grün und blau geschlagen. Der hatte nicht für einen Penny Mitgefühl in sich. Sie natürlich auch nicht, nur dass er der Stärkere war.« Mrs. Drake runzelte die Stirn, als sie den Blick über Nineveh schweifen ließ. »Da haben sich zwei vom selben Schlag gefunden, habe ich immer gedacht. Die haben den Teufel gegenseitig aus sich herausgekitzelt.«

    Als Ruby wieder in London war, rief sie Richard an, der sie zum Dinner in seinen Klub einlud.
    Richards Klub war genau so, wie Ruby ihn sich vorgestellt hatte: abgewetzte Chesterfield-Ledersofas, dunkel getäfelte Räume und alte Männer, die Kläppchenkragen trugen und in Lehnsesseln dösten. Bei der Consommé erzählte sie Richard von Tante Maude.
    Â»Wie war sie?«, fragte Richard.
    Â»Schrecklich«, erwiderte Ruby. »Ich glaube, sie war der schrecklichste Mensch, den ich je kennengelernt habe.«
    Richard brach in schallendes Gelächter aus. »Ich habe auch nichts dafür übrig, um den heißen Brei herumzureden – ehrlich währt am längsten. Und deine Cousine?«
    Â»Hannah ist nicht wie Tante Maude, gar nicht grausam.« Ruby rührte in ihrer Suppe, die stark nach Hefe schmeckte und wie der Marmite-Brotaufstrich mit Wasser verdünnt war. »Ich habe immer Schuldgefühle ihretwegen.«
    Â»Schuldgefühle?« Richard sah sie an. »Warum?«
    Ehrlich währt am längsten, hatte Richard Finborough gesagt. Und während Ruby den letzten Löffel voll Suppe aß, suchte sie eine ehrliche Antwort.
    Â»Sie sollte mir leidtun – und das tut sie auch –, aber ich ärgere mich auch über sie. Ich denke ständig, warum nur geht sie dort nicht weg, warum tut sie nicht irgendwas? Und dann schäme ich mich vor mir selbst, weil ich genau weiß, warum sie es nicht tut. Weil Tante Maude noch den letzten Funken Mut aus ihr herausgeprügelt hat.«
    Â»Aber jetzt, wo die Frau tot ist…«
    Â»Ich habe Hannah ja gefragt, ob sie aus Nineveh wegwill«, sagte Ruby verdrossen. »Ich habe ihr sogar angeboten, dass sie bei