Das Haus in den Wolken
als Hannah Quinn, dachte Ruby.
Es klopfte an der Tür. Die Dunkelhaarige steckte den Kopf herein.
»Ich dachte, Sie wollen vielleicht auch eine«, sagte sie und hielt Ruby eine Tasse Tee hin.
»Danke.«
»Möchten Sie auch ein Brot oder so was?«
Es war vier Uhr nachmittags, und Ruby hatte seit dem Frühstück noch nichts gegessen. »Ja, bitte.«
Das junge Mädchen war fast schon wieder zur Tür hinaus, als es sich noch einmal umdrehte. »Hören Sie«, begann es. »Ich weiÃ, was Sie denken, aber so schrecklich sind wir nicht. Als ich hierherkam, habe ichâs wirklich versucht. Aber Hannah hat kaum ein Wort gesprochen â sie hat mich nicht mal angeguckt. Wohl weil sie so schüchtern ist â und auch ein bisschen seltsam. Und auÃerdem, na ja, ich weiÃ, den Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen, aber die Alte war eine richtige Hexe. Sie hat uns allen das Leben zur Hölle gemacht. Deshalb haben Diana und ich uns schlieÃlich eben nur um uns selbst gekümmert.« Und nach diesen Worten ging es wieder hinunter.
Ruby legte die Hände um die Tasse. Sie hatte Kopfschmerzen und versuchte, einen Schluck zu trinken, doch der Tee war noch zu heiÃ. Sie stellte Tasse und Untertasse auf die Kommode und sah sich noch einmal in diesem Zimmer um. Die Schwester im Krankenhaus hatte gesagt, dass Hannah ein Nachthemd zum Wechseln brauchte, einen Morgenmantel, Hausschuhe und einen Toilettenbeutel. Bei der Waschschüssel lagen ein Kamm und ein Handtuch, doch das Handtuch war grau, und aus dem Kamm waren lauter Zinken herausgebrochen. Ruby holte ihren eigenen Kamm aus der Handtasche und legte ihn zur Seite.
Nachthemd zum Wechseln, Morgenmantel, Hausschuhe⦠Hannah schien nur ein einziges Nachthemd zu besitzen, das, in dem sie ins Krankenhaus gebracht worden war. Vielleicht war ja eines in der schmutzigen Wäsche, dort musste sie noch nachsehen. Auf der Suche nach den Hausschuhen blickte Ruby unters Bett und wich entsetzt zurück, als sie einen Nachttopf entdeckte.
Sie ging aus dem Zimmer und begann, in den anderen Räumen zu suchen. Unter all dem nutzlosen Krempel, den Maude in Nineveh angehäuft hatte, mussten doch irgendwo ein Morgenmantel und Hausschuhe zu ï¬nden sein. Sie sah in Schlafzimmer und Abstellkammern hinein und in Räume, die offenbar keinem besonderen Zweck dienten, sondern nur wahllose Ansammlungen seltsamster Gegenstände beherbergten: eine Standuhr, einen alten Kinderwagen, ein Dutzend Paar Schuhe mit losen Sohlen, die alle auf einem Haufen lagen. Es gab kein Licht, und ein dunstiger grauer Schleier lag auf all den Möbeln und Dingen, die Maude Quinn angesammelt hatte. Was hatte ihre Mutter gesagt? Maude hat immer gehortet. Wenn sie erst einmal etwas in Händen hatte, hat sie es nicht mehr hergegeben. Ruby entdeckte ein Hundehalsband, dessen Leder brüchig war, ja beinahe schon zerrissen. Leere Dosen, ausgewaschen und ohne Deckel. Alte Briefumschläge, Baumwollgarnrollen und rostige Nägel. Und viel zu kurze Schnurenden, die zu nichts mehr nutze waren. Worauf hatte Maude Quinn sonst noch ihre Hand gehabt? Auf ihrer Tochter, natürlich.
In Maudes Schlafzimmer standen ein schmiedeeisernes Bett, Schränke, Kommoden und ein Nachttisch. Auf dem Bett lag eine schwere, gerüschte Steppdecke in Dunkelrot. Im Schein einer Ãllampe leuchteten Medizinï¬Ã¤schchen und Gläser voll Pennys und kleiner Seifenstücke.
Ruby steckte eines der Seifenstücke in die Manteltasche. Dann öffnete sie einen Schrank. Auf dem oberen Regalbrett lagen Dutzende Hüte, alle grün-schwarz und geschmückt mit Feder und Jettbrosche. An der Stange darunter hingen Reihen von Kleidern, Mänteln und Röcken, so viele, dass sie dicht gedrängt waren. Dennoch war der ganze Schrank sehr ordentlich, Maude hatte ihre Kleider geliebt.
Ruby lieà den Blick über die Stange gleiten. Unter all dem Schwarz entdeckte sie etwas Kakifarbenes.
Das junge Mädchen von zuvor steckte den Kopf zur Tür herein. »Ach, hier sind Sie. Ich suche Sie schon überall. Ist dieses Zimmer nicht ein Albtraum? Was machen Sie hier drinnen?«
»Ich suche nach einem Morgenmantel für Hannah.«
»Was ist das denn?«
»Ein Soldatenmantel.« Ruby hatte ihn aus dem Schrank genommen. »Mein Vater hat auch immer so einen getragen.«
»Wo soll ich das hinstellen?«, fragte sie und hielt Ruby einen Teller mit
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