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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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nur das Fenster öffnen und etwas frische Luft hereinlassen könnte, dachte Hannah, aber sie hatte Angst vor jeder Bewegung.
    Irgendwann bemerkte sie, dass es schon heller Tag war. Sie konnte Diana und Marie im Hof reden hören, der Schmerz hatte sich inzwischen an einer Stelle rechts unten in ihrem Unterbauch konzentriert. Wenn sie behutsam mit den Fingern auf die Stelle drückte, zuckte sie zusammen. Schweiß rann ihr von der Stirn, und sie versuchte, sich zu bewegen und sich woanders hinzulegen, dorthin, wo die Laken kühler waren.
    Sie versuchte, an George Drake zu denken. Sie erinnerte sich daran, wie er einmal mit ihr von Manea zurück nach Hause gegangen war, was er zu ihr gesagt und wie er sie dabei angelächelt hatte. Er hatte ihr die Einkaufstasche getragen. Vor George Drake hatte Hannah keine Angst, sie kannte ihn schon ein Leben lang, und George war immer gut zu ihr gewesen. Doch jetzt konnte sie sein Gesicht nicht vor sich sehen, nur einzelne Teile schwirrten vor ihrem geistigen Auge – sandblondes Haar, Sommersprossen, blaue Augen –, und wenn sie versuchte, sie zusammenzusetzen, ergaben sie irgendwie nicht das Bild von George.
    Wieder ein entsetzliches Stechen: Hannah keuchte. Sie wusste, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte, und hatte Angst, dass sie, wie ihre Mutter, sterben musste. Ob sie Diana und Marie erzählen sollte, dass sie krank war? Vielleicht würde eine von ihnen den Arzt holen. Doch sie schreckte zurück bei dem Gedanken, was Diana mit ihrer lauten, hochnäsigen Stimme sagen würde, wenn sie, Hannah Quinn, sie bitten würde, nach Manea zu gehen. Und auch der Gedanke, sich nach unten schleppen zu müssen, entsetzte sie – das würde sie gar nicht mehr schaffen.
    Hannah trieb hin und her zwischen Schlafen und Wachen. Sie träumte, dass sie wieder ein kleines Mädchen war und ihre Mutter sie ins Nebengebäude eingesperrt hatte, weil sie böse gewesen war. Hannah konnte die klebrigen Fäden der Spinnennetze spüren und den fauligen Pilzgeruch riechen.
    Und noch ein Traum kam ihr, über etwas, das lange zurücklag. Ein Lärmen in der Nacht, dann das Gebell der Hunde im Hof. Und die Stimme ihrer Mutter, die sang: »Welch ein Freund ist unser Jesus. Oh, wie hoch ist er erhöht!«
    Als Hannah wieder erwachte, versuchte sie zu beten, doch es fielen ihr nur die Lieblingsverse ihrer Mutter ein: »Schauet Er die Erde an, so bebet sie; rühret Er die Berge an, so rauchen sie.« Und außerdem, warum sollte Gott sie lieben? Warum sollte er die unscheinbare, dumme Hannah Quinn lieben? Sie war nicht gut, und Gott liebte nur die Guten. Sie war böse – das wusste sie, denn das hatte ihre Mutter ihr gesagt.

    Als Ruby in Cambridge die Lautsprecherdurchsage hörte, dass ihr Zug Verspätung hatte, hätte sie beinahe aufgegeben und wäre mit dem nächsten Zug nach London zurückgefahren. Wozu diese lange Reise bis nach Nineveh, wenn Hannah sie doch nur mit ängstlichen, waidwunden Blicken anstarren und den Kopf schütteln würde? Warum nach Nineveh fahren, das all das beherbergte, wofür sie sich schämte? Warum einer Laune, einer Ahnung, einem Rauchzeichen in der Luft folgen?
    Aber es gab Gespräche, die Hannah und sie nie geführt hatten. Es gab Fragen, die endlich gestellt werden mussten. Vermutungen, die beinahe zu schrecklich waren, um sie auszusprechen, und denen sie nachgehen musste, um zur Ruhe zu kommen.
    Im Wartesaal nahm sie einen Roman und ihre Brille aus der Tasche und begann zu lesen. Es gab keine Heizung, und ihre Hände waren eiskalt. Ihr gegenüber schlief ein junger Mann in der Uniform der Königlich-Britischen Luftwaffe, die Kappe über das Gesicht gezogen.
    Dann kam der Zug. Durch das Abteilfenster sah Ruby die Landschaft nördlich von Cambridge immer flacher werden und sich zu schwarzen Feldern ausbreiten, über denen ein silbriges Glitzern von Schwemmwasser lag oder manchmal auch ein grünes Leuchten von Winterweizen. Der Zug verließ den Bahnhof von Ely und fuhr in die Fens hinein, und als er das Überschwemmungsgebiet zwischen dem Old Bedford River und dem Hundred Foot Drain durchquerte, schien es, als würde er über Wasser dahingleiten. Als Ruby aus den Fenstern blickte, war zu beiden Seiten des Zuges nichts als eine spiegelglatte Oberfläche zu sehen, auf der sich Wasservögel tummelten.
    Der Zug fuhr in den Bahnhof von Manea ein.

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