Das Haus in den Wolken
verändert hatte. Ihr gesellschaftlicher Schliff und ihr Selbstbewusstsein hatten auf sie abgefärbt. Es war nichts Besonderes für sie, in die Oper zu gehen oder in einem Restaurant zu Mittag zu essen. Sie wusste, wie sie sich zu welcher Gelegenheit zu kleiden hatte, wie man einen Dankesbrief abfasste und wie lange man blieb, wenn man einen Nachmittagsbesuch machte. Richard hatte ihr das Schwimmen beigebracht, und Philip hatte ihr gezeigt, wie man ein Motorrad anlieÃ, während sie von Isabel einen gewissen Stil mitbekommen hatte, ein Gespür dafür, wie man sich kleidete und wie man ein Haus einrichtete. Sara hatte ihr Freundschaft entgegengebracht, uneingeschränkt und liebevoll. Was Philip betraf, so hatte die erste kindliche Leidenschaft, die sie am Tag ihrer Ankunft bei den Finboroughs ergriffen hatte, diese blitzartige Gewissheit, hier einem strahlenden Zauberwesen gegenüberzustehen, nie nachgelassen. Sie liebte Sara, sie mochte Theo â mit gewissen Vorbehalten â, doch Philip betete sie an. Wenn sie und Sara sich vorzustellen versuchten, was für Männer sie eines Tages heiraten würden, sah Rubys künftiger Ehemann stets aus wie Philip.
Isabels Fürsorge war liebevoll, aber streng, und das in zunehmendem MaÃ, als sie und Sara älter wurden â als ob, dachte Ruby gereizt, an jeder StraÃenecke Männer mit üblen Absichten lauerten, die nur darauf aus waren, junge unschuldige Mädchen zu verführen. Kinos und Tanzdielen fand Isabel unschicklich für wohlerzogene junge Damen, und wenn sie einmal einen Nachmittag zu Woolworth wollten, um heimlich â Isabel hielt Schminke für vulgär â Lippenstift und Nagellack zu kaufen, mussten sie ein so ausgeklügeltes Netz von Lügen spinnen, dass ihnen beinahe der Spaà an der Sache verging.
Von den Gefahren, vor denen Isabel sie zu bewahren suchte, hatten sie nur eine unbestimmte Vorstellung. Rubys und Saras Wissen über die Liebe zwischen Mann und Frau war lückenhaft; was sie wussten, hatten sie aus Gesprächen mit Schulfreundinnen und aus den Büchern, die Ruby las. Les Fleurs du Mal , mühsam mithilfe des Französischlexikons durchgeackert, war frustrierend in seiner Verschwommenheit. Die treue Nymphe , viele Male unter Tränen verschlungen, war da weit zufriedenstellender. Doch was genau hatten Tessa und ihr Geliebter in ihrem Zimmer in dem kalten belgischen Fremdenheim getan, bevor die bedauernswerte Tessa das Fenster öffnen wollte und bei dem Versuch an einem Herzleiden gestorben war?
»Sobald du weiÃt, wie es ist«, sagte Sara, »ich meine, aus eigener Erfahrung, musst du es mir unbedingt erzählen, Ruby.«
»Vielleicht erfahre ich es nie. Vielleicht sterbe ich als reine Jungfrau.« Ruby dachte voll Sehnsucht an Philip.
Sara ging im Sommer 1933 von der Schule ab. Im August nahm Isabel sie mit zu ihrer Schneiderin und lieà ihr ein halbes Dutzend neue Kleider anpassen. Lucien schnitt ihr die Haare, und ihre GroÃmutter schickte ihr aus Irland ein Halsband mit Perlen und Smaragden und die dazu passenden Ohrringe. Erbstücke der Familie Finborough. In schräg geschnittenem Satin in Apricot, Creme oder Violett, Hals und Ohren von Smaragden funkelnd, das Haar eine ï¬ammende Wolke, stürzte sich Sara ins gesellschaftliche Leben. Wenn sie in den frühen Morgenstunden nach Hause kam, schlich Ruby zu ihr ins Zimmer. Meistens lag das Collier achtlos hingeworfen auf dem Toilettentisch, und an die Stelle der Satinrobe war ein Flanellschlafanzug getreten. Wenn Ruby sie nach dem Fest fragte, gähnte Sara und sagte: »Ach, du kannst dir nicht vorstellen, wie langweilig es war. Fürchterlich. Komm, lass uns von etwas anderem reden.«
An einem Samstagnachmittag Anfang Januar, als Sara übers Wochenende auf dem Land war und Ruby beim Wegpacken des Christbaumschmucks half, fragte Isabel: »Hast du dir eigentlich schon überlegt, was du tun willst, wenn du mit der Schule fertig bist, Ruby?«
Ruby, die eine silberne Kugel in der Hand hielt, sah erstaunt auf. »Nein, so richtig noch nicht, Tante Isabel.«
»Du könntest Lehrerin werden. Du hast immer so gute Zensuren.«
»Vielleicht. Oder Krankenschwester«, sagte sie aufs Geratewohl, da sie vor Kurzem eine Biograï¬e über Edith Cavell gelesen hatte.
»Du könntest dir auch überlegen, im Büro zu arbeiten. Richard hätte sicher eine passende Stelle in
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