Das Haus in Georgetown
gezählt, obwohl ich es vermutlich noch könnte. Die Männer sind gegangen, die Erinnerungen bleiben. Im Rückblick finde ich sie alle ganz entzückend.“
Lydia betrat den Raum und betrachtete die exotischen Rosenholzund Mahagonimöbel. „Der Letzte muss eine Menge Zeit im fernen Osten verbracht haben.“
„Er stammte aus dem fernen Osten. Ein bezaubernder gelbhäutiger Chinese. Oh, das ist wahrscheinlich politisch unkorrekt ausgedrückt, aber wir haben uns ja nie lange mit Förmlichkeiten aufgehalten, du und ich.“
„Und du hast keinen von ihnen geheiratet. Hat nie einer um deine Hand angehalten?“
Dottie Lee lachte: eine alte Frau, deren Lachen jung geblieben war. „Andauernd.“
„Aber du konntest das Haus nicht verlassen.“
„Für dich bin ich noch immer ein offenes Buch. Nach all den Jahren.“
„Weiß Faith von deiner Angst?“
„Ob sie weiß, dass ich alles daransetze, nie über die Grenzen meines Grundstücks hinaus zu müssen? Eher nicht. Ich bin drüben bei ihr gewesen. Sie hat entweder gar nicht bemerkt, dass ich nie weiter fortgehe, oder sie hält es für Bequemlichkeit oder eine harmlose Marotte.“
„Hast du nie Hilfe gesucht?“
„Das war nie nötig. Natürlich war es manchmal unpraktisch, Und selbstverständlich hat es ein, zwei Männer gegeben, die mich so sehr faszinierten, dass ich vielleicht versucht gewesen wäre, ihnen zu folgen, wenn sich mehr daraus entwickelt hätte. Aber mein Leben in diesen Mauern hat mich sehr viel gelehrt.“ Dottie Lee deutete auf die Wände. „Deshalb sind sie zu mir gekommen, all die Diplomaten und Staatsmänner. Ich habe ihnen so viel bieten können, dass sie mich immer wieder besuchten, bis ich von ihnen genug hatte.“
Lydia wollte, wie in all den Jahren, schon wieder den Stab überihrer alten Babysitterin und Kindheitsfreundin brechen, aber sie erkannte, dass auch sie gegen ihre eigenen Ängste machtlos gewesen war. Hatten sie nicht beide versucht, unter den gegebenen Umständen das Beste aus ihrem Leben zu machen? Sie selbst hatte ihre Ehe mit Joe fortgesetzt und ein zweites Kind geboren, und Dottie Lee hatte ihr Gefängnis in einen Palast verwandelt.
„Das ist kein Freundschaftsbesuch“, sagte Lydia.
„Das habe ich vermutet. Seit du mit Joe Huston verheiratet bist, hast du alles darangesetzt, nicht mit mir gesehen zu werden.“ „Du hast einen zweifelhaften Ruf.“
„Und ich bin sehr stolz darauf.“ Dottie Lee führte sie zum Sofa. „Soll ich Mariana bitten, uns Tee zu bringen? Oder etwas Stärkeres?“
„Nichts. Ich bleibe nicht lange.“
„Dann setz dich und entspann dich, Lyddy. Weißt du noch, wie du uns als Kind immer besucht hast? Du warst eine Rabaukin. Deine Großmutter hat mich dafür bezahlt, dass ich mit dir spiele, damit sie sich für eine kurze Zeit ausruhen konnte, und mich hast du auch fix und fertig gemacht.“ Sie lächelte liebevoll. „Ganz wie dein Enkel. Voller Fragen, Ideen und Tatendrang.“
Schon daran zu denken erschöpfte Lydia. Ihr fielen jene frühen Tage wieder ein, als ihre Eltern weite Reisen unternommen hatten und sie bei ihrer Großmutter geblieben war, bis ihre Mutter ihr endlich ein eigenes Zuhause bieten konnte. Sie erinnerte sich an ihre vielen Besuche in diesem Haus und auch an Dottie Lees Humor und Geduld.
„Ich komme gleich zur Sache“, begann Lydia.
„Wie bedauerlich.“
„Du setzt Faith Flöhe ins Ohr. Es gibt Dinge, die sie nicht zu wissen braucht.“
„Ist sie der gleichen Meinung wie du?“
„Sie hat mir erzählt, dass du behauptest, du wüsstest alles über unser Haus, und so, wie ich dich kenne, hast du die Situation ausgenutzt, um ihr Interesse an der Vergangenheit zu wecken.“
„Nicht der Vergangenheit, meine Liebe. Deiner Vergangenheit. Nicht verallgemeinern!“
„Das wird zu nichts Gutem führen. Ich möchte dich fragen, was du ihr mitgeteilt hast. Und was du vorhast.“
„Was ich vorhabe?“
„Faith meinte, du rückst die Informationen stückchenweise heraus. Du wartest, bis sie die richtigen Fragen stellt.“
„Das hat sie gesagt?“ Dottie Lee lächelte. „Sie ist ein kluges Mädchen. Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich sie mag? Sie erinnert mich an deine Mutter. Sie hätte eine exzellente Botschaftergattin abgegeben, genauso wie Millicent. So entgegenkommend. So hilfsbereit und umsichtig. Und zugleich standhaft genug, um die traurige Politik des Außenministeriums zu ertragen.“ Dottie Lee machte eine Pause. „Ich werde offenbar alt. Faith
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