Das Haus in Georgetown
Türknauf und trat ins Freie. Dottie Lee stand aufrecht da, ihr weißes Haar hatte sie seitlich mit Perlmuttkämmen festgesteckt. Einen Augenblick lang tauchte die junge Dottie Lee vor Lydias innerem Auge auf, das schwarzhaarige Weib, das die Reichen und Mächtigen in seinen Bann geschlagen hatte.
Lydia wollte sich nicht noch einmal so direkt mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontieren. Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme zu deiner Beerdigung.“
Lydia ging nicht heim. Sie kehrte in Faith’ Haus zurück, weil sie sich nicht sicher war, ob sie die Kaffeemaschine ausgeschaltet hatte. Sie war dieser Tage oft nicht ganz bei der Sache, aber sie wusste, dass sich das nicht auf ein Frühstadium von Alzheimer zurückführen ließ, sondern auf ihre Sorgen. Falls sie jemals Alzheimer bekommen sollte, wäre sie verloren. Joe würde sie im Handumdrehen in einem Heim verschwinden lassen und dann eloquent über die Notwendigkeit einer besseren Gesundheitsversorgung für alte Menschen reden – während er jeden Versuch seiner eigenen Partei, die Lage zu verbessern, eiskalt ablehnte.
Joe Huston, der schlimmste der vielen Fehler, die ihr unterlaufen waren.
In der Küche entdeckte sie, dass die Maschine tatsächlich noch an war, und schenkte sich eine letzte Tasse ein, bevor sie das Gerät ausschaltete. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie nicht gleich wieder ging. Nein, schlimmer: Sie wusste es sehr wohl, wollte es sich nicht eingestehen. Sie war hier, weil sie in diesem Haus noch immer die Stimme von Dominik Dubrov vernahm. Dottie Lee hattebehauptet, seinen Namen auszusprechen würde ihn nicht wieder zum Leben erwecken – aber sie hatte sich geirrt. Noch nach neununddreißig Jahren konnte sie sich an sein Gesicht so gut erinnern, als würde er ihr in der Küche gegenüberstehen.
Hier hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Sie hatten es natürlich nicht darauf angelegt. Sie befand sich in der gesellschaftlichen Hierarchie weit über ihm, was für sie allerdings mehr zählte als für ihn, der sich allen Menschen gewachsen fühlte. Beide waren sie verheiratet, und beide wollten ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – er aus tief empfundener Verantwortung gegenüber Frau und Kind, und sie, weil ...
Lydia stellte die Tasse ab und legte den Kopf in die Hände. Sie, weil ihr Vater ein mächtiger Mann war und Macht ihr alles bedeutete. Sie hatte immer zahlreiche Privilegien genossen – und war mit dem Gefühl aufgewachsen, einen Anspruch auf diese zu haben. Sie verdiente einen Ehemann, der ihr diese Sicherheit bot. Also hatte sie Joe geheiratet – und sich in Dominik verliebt.
Sie war seiner nie überdrüssig geworden, nie hatte sie seinen nächsten Besuch gefürchtet oder seinen Körper nicht mehr begehrt. Er hatte nie mehr verlangt als ihre kurzen Stunden der Zweisamkeit. Wann immer sie in Versuchung kam, sich mehr zu erhoffen, unterdrückte sie diesen Wunsch, bevor er Gestalt annehmen konnte. Es war genug, diese verbotene, leidenschaftliche Lust zu teilen. Gedanken an die Zukunft hatte sie vermieden, weil sie wusste, dass es eine solche nicht geben würde.
Das Einzige, was sie nicht geahnt hatte, war, wie es enden würde.
Dominik war ein leidenschaftlicher Mann, der sich in seinem Körper wohl fühlte – und in ihrem. In Dominiks Welt gab es keine halbenSachen. Alles, was er anpackte, tat er aus vollem Herzen. Für einen Mann von bescheidener Bildung wusste er über erstaunlich viele Dinge etwas zu sagen. Er verstand etwas von Politik und begriff, dass vielen Politikern ihr Idealismus, der sie einmal angetrieben hatte, im Laufe der Zeit abhanden kam, weil sie zu viele Kompromisse eingehen mussten. Das Italienisch, in dem er ganze Arien sang, klang wirklich italienisch, und einmal hatte er ihr einen billigen Druck von Botticellis „Geburt der Venus“ mitgebracht, nur um ihr jenen Grünton zu zeigen, der ihm für ihr Wohnzimmer vorschwebte.
Er konnte über Tau auf einem Rosenblatt weinen und sich über ein Bonbonpapier auf der Straße ärgern. Jedes Mal, wenn er ihr sein Herz öffnete, wuchs ihre Liebe zu ihm. Sie lebte auf die gemeinsamen Augenblicke hin und weigerte sich, an den Tag zu denken, an dem das alles enden würde.
Bis er kam, dieser Tag.
Dominik hatte sich an diesem Nachmittag etwas verspätet. Sie wusste, dass sein Sohn häufig krank und in medizinischer Behandlung war. Dominiks Frau haderte mit ihrem Schicksal. Sie war, wie er betonte, eine gute Mutter,
Weitere Kostenlose Bücher