Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus mit der grünen Tür

Das Haus mit der grünen Tür

Titel: Das Haus mit der grünen Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
bedanken.
    Sie ging schnell vor mir her, leicht vorgebeugt, mit einem steifen Gang, der nicht zum Alter paßte. Sie war wohl sechzehn, vielleicht, aber sie ging, als sei sie sechzig und hätte Bauchschmerzen. Sie bog um eine Ecke, und als ich die Ecke erreichte, war sie verschwunden.
    Ich fluchte.
    Eine große, schwere Matrone kam die Straße herunter, weit oben, mit zwei Plastiktüten mit klirrendem Inhalt, und es war sicher kein Mineralwasser. Sonst war die Straße leer.
    Das bot mir zwei Möglichkeiten. Es waren zwei Treppen und zwei Hauseingänge in Reichweite. Sie mußte in einen davon gegangen sein. Vielleicht wohnte sie da – oder vielleicht …
    Ich hatte ihr Gesicht gesehen, als sie vom Haus mit der grünen Tür die Straße hinunterlief. Es war ein weißes Gespenstergesicht gewesen, mit einem Hunger darin, den ich wiedererkannte.
    Ich öffnete die erste Tür und ging hinein.
    Es war ein braunes, schäbiges Treppenhaus. Die hintere Tür stand einen Spaltbreit offen. Ich ging daran vorbei und blieb stehen und horchte. Eine dunkle, braune Treppe mit ausgetretenem Linoleumbelag führte nach oben, in eine Atmosphäre von gekochtem Kohl und Windelwäsche. Unter der Treppe war eine dunkle Ecke, wo man Fahrräder oder Kinderwagen abstellen konnte. Es standen weder Fahrräder noch Kinderwagen da, aber ich hörte einen schwachen Laut wie von einer Ratte, die in der Dunkelheit herumschnüffelte und nach Fressen suchte.
    Ich ging hin und sah unter die Treppe.
    Ihr Blick begegnete meinem. Das bleiche Gesicht erschien mir wie ein Totenkopf, doch am meisten ähnelte sie einem bettelnden Kind in einem Entwicklungsland.
    Ich sah die spitze Nadel in ihrer Hand schimmern. Ich sah den aufgekrempelten Ärmel, den Gummischlauch, den sie sich um den Oberarm gebunden hatte, um die Adern anschwellen zu lassen.
    Es war eine Einwegspritze, und sie war fast voll.
    Es flimmerte vor meinen Augen, wenn ich daran dachte, wie Henning Kvam einige seiner Mädchen bezahlte.
    Ich griff um die Hand, die die Spritze hielt. Sie biß nach meiner Hand, aber ich drehte sie zur Seite. Die Spritze fiel auf den Boden. Dort blieb sie liegen. Sie griff danach. Ich stoppte ihre Hand mit meiner anderen. Ich hielt sie jetzt fest, und ich sagte: »Willst du, daß ich deine Spritze zerbreche, mit meinem Fuß?«
    Sie forderte mich auf, zur Hölle zu fahren und mir Transalbe auf einen dazu geeigneten Körperteil zu schmieren. Sie forderte mich auf, meinen rostigen Regenschirm wo hineinzuschieben, wo es mit ziemlicher Sicherheit weh tat. Sie forderte mich noch zu einigen anderen spaßigen Dingen auf, aber keiner der Vorschläge machte Eindruck. Ich hatte so etwas früher schon gehört – und Schlimmeres. Von einem Mädchen, das Eva-Beate hieß, und von anderen. Ich hatte schon viele süchtige Teenager gesehen, und ich war nicht zu schockieren.
    Aber ich war wütend, rotglühend wütend. Nicht auf sie, sondern auf die, die sie benutzten, und auf die, die sie zu der gemacht hatten, die sie war.
    Ich betrachtete die Innenseite ihres Armes. Es war ein dünner zarter Mädchenarm. Wenn ich ihn umfaßte, berührten meine Fingerspitzen meinen Daumen. Ihr Arm war voller Narben, wie die Spuren eines ungewöhnlich blutrünstigen Insekts. Aber dieses Insekt war gefährlicher als die giftigste Tarantel und blutrünstiger als der grausamste Vampir. Dieses Insekt war böse und gnadenlos, und ich hatte gelernt, es zu fürchten. Ich hatte ein paar seiner Opfer gesehen.
    Ich sagte: »Hör mal, wie heißt du?«
    »Scheiß drauf«, antwortete sie und schielte auf die Nadel hinunter. Ihre Oberlippe war feucht von Schweiß, und ihr Hals hatte rote Flecken.
    Ich sagte: »Ich zertrete sie, wenn du nicht ordentlich antwortest.«
    »Ich krieg eine neue von – einem Bekannten.«
    »Da sei dir mal nicht so sicher, du. Na, wie heißt du?«
    Oben im Haus ging eine Tür auf, und eine grobe Frauenstimme rief: »Julia! Juuulia!«
    Wir lauschten.
    Eine andere Tür ging auf. Eine hellere Frauenstimme antwortete: »Was is’n?«
    »Dreh dein verdammtes Radio leiser – sonst schütt ich mein Abwaschwasser über deine Wäsche!«
    »Untersteh dich, du Schreckschraube!«
    Eine Tür knallte zu. Und noch eine.
    Ich sagte: »Willst du so werden wie die?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Ich sagte leise: »Wie heißt du?«
    Sie sagte es – nicht mir, sondern der Spritze. Sie sagte der Spritze, wie sie hieß und wo sie wohnte. Sie erzählte, daß sie im Juni mit der Schule fertig geworden war und daß sie

Weitere Kostenlose Bücher