Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
Brüche gehen lassen. Er hatte sich die herrschende Klasse zum Feind gemacht, weil er das Volk gegen die Autokratie aufbrachte, und während die großen Damen der feinen Gesellschaft, darunter auch die Zarin, seinen Verführungskünsten erliegen mochten, traf dies auf die Muschiks in den Städten und Dörfern Russlands keineswegs zu.
Was einen verwunderte, war nicht, dass es so viele Leute gab, die ihn mit Vergnügen umgebracht hätten, sondern dass er überhaupt noch am Leben war.
Die Tage nach der Aufdeckung der Affäre von Maria und Sergei waren von Angst erfüllt. Der Gedanke, der Starez würde irgendeinen Grund finden, um den Zaren über meine Beziehung zu seiner jüngsten Tochter ins Bild zu setzen, trieb mich beinahe in den Wahnsinn. Dazu kam noch der schmerzliche Verlust meines Freundes und die Sorge um Anastasia, die sich um ihre verzweifelte und in Ungnade gefallene Schwester kümmerte und offenbar ähnliche Qualen erlitt.
Es schien mir unmöglich, so ein Leben noch länger zu ertragen. Ich fuhr erschrocken zusammen, sobald es an meiner Tür klopfte, und ich schlich verängstigt durch die Flure des Palastes, in ständiger Angst, meinem Peiniger in die Arme zu laufen. Und so ging ich ein paar Abende nach Sergeis Verbannung ins Waffenarsenal und nahm dort eine Pistole aus den Regalen, ohne auch nur einen Gedanken an die möglichen Folgen meines Tuns zu verschwenden. Bei Einbruch der Dunkelheit begab ich mich zu dem Haus, das ich knapp drei Wochen zuvor besucht hatte, an dem Abend, als ich mich zum Vergnügen des Starez erniedrigt hatte. Um nicht erkannt zu werden, hatte ich mich verkleidet und trug einen schweren Mantel, den ich am Vortag an einer Marktbude erstanden hatte, einen Hut, einen dicken Schal und dazu noch ein langes Halstuch. Niemand würde mich identifizieren können oder etwas anderes in mir vermuten als einen fleißigen Händler, der schnurstracks nach Hause strebte, um der frostigen Luft zu entkommen. Wieder durch die gleichen Straßen zu gehen wie an jenem Abend und wieder zu hören, wie meine Hand an jenen schwarzen Türrahmen klopfte, reichte schon aus, um mich mit Scham und Reue zu erfüllen – ich spürte, wie sich mir der Magen umdrehte, als ich mich daran erinnerte, was ich getan und was ich so verzweifelt zu vergessen versucht hatte. Ich hatte meine Unschuld verloren, und ich wusste nicht mehr, ob ich der Liebe Anastasias überhaupt noch würdig war.
Meine Hände zitterten, nicht nur wegen der Kälte, sondern auch aus Angst vor dem, was ich vorhatte, und während ich darauf wartete, dass mein Feind an der Tür erschien, hielt ich die unter meinem Mantel verborgene Pistole fest umklammert. Würde ich ihn auf der Stelle erschießen? Oder würde ich ihm erlauben, ein letztes Gebet zu sprechen, um Vergebung zu bitten, sich vor seinem Gott, wer immer der sein mochte, in den Staub zu werfen, auf die gleiche Weise, auf die er so viele Menschen gezwungen hatte, sich vor ihm in den Staub zu werfen?
Von drinnen waren nun Schritte zu hören, die sich der Tür näherten. Mein Puls begann vor Aufregung zu rasen, meine schweißnassen Finger klebten am Abzug der Pistole. Nein, sagte ich mir, wenn ich ihn erschoss, dann in dem Moment, wo er an der Tür auftauchte – bevor er wusste, wie ihm geschah, bevor er mich dazu überreden konnte, Gnade walten zu lassen. Zu meiner Überraschung war es jedoch nicht er, der die Tür öffnete, sondern die Prostituierte, deren Reizen ich ein paar Wochen zuvor erlegen war. Sie hatte einen leeren Gesichtsausdruck und erkannte mich zunächst nicht wieder. Ich konnte sehen, dass sie entweder betrunken war oder, von welchem Absud auch immer, den Verstand verloren hatte.
»Wo ist er?«, fragte ich mit einer tiefen, furchtgebietenden Stimme, als ich mich wieder auf den Grund meines Kommens besann.
»Wo ist wer?«, erwiderte sie, von meiner Erscheinung genauso wenig beeindruckt wie von meiner Entschlossenheit. Ich war nur einer von vielen, die der Starez hierhergebracht hatte. Von Dutzenden vermutlich. Von Hunderten.
»Du weißt schon, wer«, beharrte ich. »Der Priester. Der, den sie Rasputin nennen.«
»Er ist nicht hier«, seufzte sie. Dann zog sie die Schultern hoch und gab ein betrunkenes Lachen von sich. »Er hat mich verlassen«, sagte sie in einem verträumten Tonfall.
»Wo ist er dann?«, herrschte ich sie an, wobei ich sie an den Schultern packte und schüttelte. Sie wurde wütend und starrte mich mit hasserfüllten Augen an, überlegte es sich dann
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