Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
viele Momente, in denen ihr Kummer wieder an die Oberfläche drang, in denen schreckliche Erinnerungen auf sie einstürmten und sie überwältigten. In diesen Momenten war sie lieber allein, und ich weiß nicht, wie sie sich durch die Finsternis kämpfte. Es gab so manchen Morgen, wo ich sie bleich und mit dunklen Ringen unter den Augen vorfand, wenn wir uns zum Frühstück trafen. Wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundigte, so ging sie achselzuckend darüber hinweg und sagte, es sei nicht der Rede wert, sie habe einfach nicht schlafen können. Und wenn ich dann nicht lockerließ, schüttelte sie den Kopf, wurde wütend und wechselte das Thema. Ich lernte, ihr den Freiraum zu lassen, den sie benötigte, um sich mit den Schrecken der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie wusste, ich war für sie da. Sie wusste, ich würde ihr zuhören, wann immer sie das Bedürfnis verspürte zu reden.
Soja hatte Sophie in der Damenschneiderei kennengelernt, in der sie beide arbeiteten, und sie hatten sich schnell angefreundet. Sie schneiderten einfache, schlichte Kleider für die Frauen von Paris, in einem Laden, wo man während des Krieges Berufskleidung angefertigt hatte. Sophie machte uns mit ihrem Freund Leo bekannt, dem Maler, und schon bald bildeten wir ein unzertrennliches Quartett, das sich regelmäßig zum Abendessen traf oder zu Spaziergängen am Sonntagnachmittag, bei denen wir voller Abenteuerlust die Seine überquerten und durch den Jardin du Luxembourg flanierten. Auf mich wirkten Leo und Sophie wahnsinnig kosmopolitisch. Ich beneidete sie insgeheim, denn sie waren kaum zwei Jahre älter als Soja und ich, lebten aber zusammen, in unverfrorener Eintracht, und zeigten ihre Leidenschaft sogar in aller Öffentlichkeit. Ihr ungenierter Austausch von Zärtlichkeiten war mir unangenehm, erregte mich aber zugleich auch.
»Es gibt Truthahn«, verkündete Sophie an jenem ersten Weihnachtsfeiertag und tischte uns einen merkwürdig aussehenden Vogel auf, der offenbar zu lange im Backofen geschmort hatte. Er war zum Teil verkohlt, aber an anderen Stellen merkwürdig rosafarben geblieben, ein außergewöhnliches Kunststück, das dem gesamten Gericht einen eher unappetitlichen Anstrich verlieh. Doch angesichts der angenehmen Gesellschaft und des in Strömen fließenden Weins sahen wir darüber hinweg und tafelten bis tief in die Nacht, wobei Soja und ich verlegen zur Seite schauten, wann immer unsere Gastgeber lange, leidenschaftliche Küsse austauschten.
Hinterher lagen wir auf den beiden Sofas in ihrem Wohnzimmer und redeten über Kunst und Politik. Soja schmiegte sich an mich und ließ es zu, dass ich ihr einen Arm um die Schultern legte und sie enger an mich heranzog. Die Wärme ihrer Haut ließ meine Körpertemperatur steigen, und ihr Haar, das sonst nach Lavendel roch, das sie aber an diesem Abend mit einem von Sophies Parfüms besprüht hatte, duftete überaus verführerisch.
»He, ihr zwei«, sagte Leo, um auf sein Lieblingsthema zu kommen, »ihr seid aus Russland. Da müsst ihr euch doch rund um die Uhr mit Politik befasst haben.«
»Nein, keineswegs«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Ich bin in einem sehr kleinen Dorf aufgewachsen, und da hatten wir keine Zeit für solche Dinge. Wir haben gearbeitet, wir haben Landwirtschaft betrieben, wir haben versucht, über die Runden zu kommen, das war alles. Für politische Debatten hatten wir keine Zeit. Das hätte man bei uns für ziemlich extravagant gehalten.«
»Ihr hättet euch die Zeit nehmen sollen«, beharrte er. »Gerade in einem Land wie dem euren.«
»Ach, Leo«, sagte Sophie und schenkte uns Wein nach, »nicht schon wieder dieses Thema, bitte!« Sie schimpfte ihn aus, allerdings auf eine gutmütige Art. Wann immer wir einen Abend zusammen verbrachten, irgendwann landeten wir bei der Politik. Leo war ein Künstler – und sogar ein guter –, aber wie so viele Künstler war er der Überzeugung, dass die Welt, die er auf seinen Leinwänden festhielt, völlig korrupt war und rechtschaffener Männer bedurfte, Männer seines Schlages, die ihre Stimme erhoben, um die Welt menschenwürdiger zu machen. Natürlich, er war noch jung und naiv, doch er hoffte, eines Tages für die Abgeordnetenkammer zu kandidieren. Er war ein Idealist und ein Träumer, aber auch ein ziemlicher Faulpelz, und ich bezweifelte, dass er jemals die für einen Wahlkampf nötige Energie aufbringen würde.
»Aber das ist wichtig«, sagte er mit Nachdruck. »Jeder von uns hat ein Land, das er
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