Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
noch nie für Finnland interessiert.«
»Ich bin als Kind dort gewesen«, erzählte sie mir. »Natürlich erinnere ich mich kaum noch daran, aber ich habe gedacht … nun, es grenzt an unsere Heimat, verstehst du? Ich meine, wir wären dort so nahe an Russland.«
»Hmm«, sagte ich, nachdenklich nickend. »Ja, natürlich.« Ich vergegenwärtigte mir die Landkarte von Nordeuropa, die ausgedehnte, fast zwölfhundert Kilometer lange finnische Ostgrenze, die sich von Grense-Jakobselv im Norden bis nach Hamina im Süden erstreckte.
»Ich möchte noch einmal nahe bei St. Petersburg sein«, fuhr sie fort. »Nur noch ein Mal im Leben, das ist alles. Solange ich noch dazu in der Lage bin. Ich möchte in die Ferne schauen und es mir vorstellen, wie es noch immer dasteht. Unerschütterlich und unbesiegbar.«
Ich atmete schwer durch die Nase und biss mir auf die Lippen, während ich ins Feuer starrte, wo sich die letzten Kohlen in Glutasche verwandelten, und mir durch den Kopf gehen ließ, was sie soeben gesagt hatte. Finnland. Russland. Es war, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr letzter Wunsch. Ich muss gestehen, dass die Vorstellung auch für mich ihren Reiz hatte, doch andererseits fragte ich mich, ob diese Reise tatsächlich eine gute Idee war. Und das nicht nur wegen der Krebserkrankung.
»Bitte, Georgi«, sagte sie, nachdem einige Minuten ohne ein Wort verstrichen waren. »Bitte! Das ist alles, was ich noch will.«
»Und du bist dir sicher, dass du die Kraft dazu hast?«
»Im Moment schon«, sagte sie. »Doch in ein paar Monaten … wer weiß? Jetzt ginge es jedenfalls noch.«
Ich nickte. »Na, dann werden wir diese Reise machen«, sagte ich zu ihr.
Es gab eine Reihe von Anzeichen, die Rückschlüsse auf die Art von Sojas Krankheit erlaubt hätten, und zusammen genommen hätten diese mir eigentlich sagen müssen, wie schlecht es ihr ging, doch da sie im Abstand von mehreren Monaten auftauchten, gemeinsam mit den üblichen Wehwehchen und Gebrechen des Alters, war es schwer, die Verbindung zwischen den einzelnen Symptomen zu erkennen. Dazu kam noch, dass meine Frau die Details ihres Leidens so lange wie möglich für sich behielt. Ob sie dies tat, weil sie mir verheimlichen wollte, unter welchen Qualen sie litt, oder weil sie sich dagegen sträubte, einen Arzt zu konsultieren, ist eine Frage, die ich ihr nie gestellt habe – aus Angst, ihre Antwort könnte mich verletzen.
Ich bemerkte jedoch, dass sie müder war als sonst und dass sie abends mit einem Ausdruck von purer Erschöpfung am Kaminfeuer saß. Mir entging auch nicht, dass ihr das Atmen etwas schwerer fiel und dass ihr Teint ein wenig blasser war. Als ich sie nach dieser Mattigkeit fragte, zuckte sie die Achseln und meinte, es sei nichts, sie müsse nur einmal eine Nacht richtig durchschlafen, das sei alles und ich solle mir wegen ihr nicht immer so viele Sorgen machen. Doch dann bekam sie auch noch Probleme mit dem Rücken, und ich konnte sehen, wie sie heftig zusammenzuckte, als sie mit der Hand an eine Stelle unten an ihrem Rückgrat fasste und die Hand dort einen Moment lang ruhen ließ, bis der Schmerz abgeklungen war. Ihr Gesicht war dabei die ganze Zeit über vor Pein verzerrt.
»Du solltest lieber zum Arzt gehen«, sagte ich zu ihr, als die Schmerzen länger anzuhalten schienen, als sie offenkundig ertragen konnte. »Vielleicht hast du’s ja an der Bandscheibe, und dein Rücken muss ruhiggestellt werden. Der Arzt könnte dir ein entzündungshemmendes Medikament verschreiben oder …«
»Oder ich werde einfach nur alt«, unterbrach sie mich, wobei sie sich alle Mühe gab, nicht laut zu werden. »Mir geht es gut, Georgi. Reg dich nicht unnötig auf!«
Binnen einiger Wochen hatten sich die Schmerzen nach und nach in ihrem Unterleib ausgebreitet, und ich registrierte bei ihr eine auffällige Appetitlosigkeit: Sie stocherte mit der Gabel in dem Essen auf ihrem Teller herum, schob sich nur Spatzenportionen in den Mund, auf denen sie dann lustlos herumkaute, bevor sie den Teller wegschob und behauptete, sie habe keinen Hunger.
»Ich habe beim Mittagessen ordentlich zugelangt«, erklärte sie, und ich war leider so dumm, ihr dies abzukaufen. »Mitten am Tag sollte ich nicht so viel essen.«
Doch als diese Symptome dann mehrere Monate lang anhielten, und sie nicht nur an Gewicht zu verlieren begann, sondern auch nachts vor Schmerzen nicht mehr schlafen konnte, ließ sie sich schließlich dazu bewegen, den in unserer Gegend ansässigen praktischen Arzt
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