Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
Jetzt hatte ich ihm endlich Geld eingebracht, aber mit seinem Profit kam gleichzeitig mein Abschied. Zu meiner Überraschung wirkte er betroffen, doch für eine Aussöhnung war es zu spät. Ich wünschte ihm alles Gute. Mehr wusste ich nicht zu sagen. Ich stieg auf den herrlichen grauen Hengst, rief ein letztes Lebewohl und verschwand nicht nur für immer aus Kaschin, sondern auch aus dem Leben meiner Familie.
    Die fünftägige Reise verlief ohne größere Zwischenfälle; entweder ritten wir oder wir rasteten, mit wenig oder gar keiner Konversation, die mir die Langeweile vertrieben hätte. Erst am vorletzten Abend zeigte Ruskin, einer der beiden Soldaten, etwas Mitgefühl mit mir, als ich an unserem Lagerfeuer saß und in die Flammen starrte.
    »Du siehst unglücklich aus«, sagte er, ließ sich neben mir nieder und stocherte mit der Stiefelspitze in den brennenden Zweigen herum. »Du freust dich wohl nicht auf St. Petersburg?«
    »Doch, natürlich«, erwiderte ich mit einem Achselzucken, obwohl ich in Wahrheit noch nicht groß darüber nachgedacht hatte.
    »Ach ja? Dein Gesicht erzählt eine andere Geschichte. Hast du vielleicht Angst?«
    »Ich habe vor nichts und niemandem Angst«, zischte ich, wobei ich mich zu ihm hindrehte und ihm einen bösen Blick zuwarf, doch das Lächeln, das über sein Gesicht huschte, ließ meine Wut auf der Stelle verfliegen. Ruskin war ein großer Bursche, stark und männlich, und wir hatten eigentlich keinen Grund, uns zu streiten.
    »In Ordnung, Georgi Daniilowitsch«, sagte er, wobei er seine Hände beschwichtigend in die Höhe hob. »Reg dich ab! Ich dachte nur, du wolltest dich vielleicht ein bisschen unterhalten.«
    »Nein, wollte ich nicht«, sagte ich.
    Eine Zeit lang schwiegen wir beide vor uns hin, und ich wünschte mir, er würde wieder zu seinem Kameraden zurückkehren und mich allein lassen, doch dann redete er weiter, wie ich es erwartet hatte, aber in einem sanften Tonfall.
    »Du machst dir Vorwürfe wegen seines Todes«, begann er, wobei er mich nicht ansah, sondern in die Flammen blickte. »Nein, streite das nicht so schnell ab! Ich weiß, dass du deswegen Schuldgefühle hast. Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet. Und vergiss nicht, ich bin selber dabei gewesen an jenem Tag. Ich habe gesehen, was passiert ist.«
    »Er war mein bester Freund«, sagte ich und spürte, wie sich in meinem Innern eine gewaltige Woge von Trauer anzustauen begann. »Wäre ich nicht zu ihm hinübergelaufen, dann …«
    »Dann hätte er Nikolaus Nikolajewitsch vielleicht getötet und wäre wegen dieses Verbrechens genauso exekutiert worden. Womöglich wäre es sogar noch schlimmer gekommen: Hätte er den Vetter des Zaren tatsächlich ermordet, wäre vielleicht seine ganze Familie hingerichtet worden. Hatte er nicht auch Schwestern?«
    »Ja, sechs Schwestern«, erwiderte ich.
    »Und die sind am Leben, weil der General am Leben geblieben ist. Du hast nur versucht, diesen Kolek Borisowitsch daran zu hindern, ein abscheuliches Verbrechen zu begehen. Das ist alles. Einen Moment früher, und das Ganze wäre vielleicht überhaupt nicht geschehen. Du musst dir keine Vorwürfe machen. Du hast es doch nur gut gemeint.«
    Ich nickte und erkannte durchaus den Sinn seiner Worte, doch es nützte mir nichts. Es war meine Schuld. Ich hatte den Tod meines besten Freundes auf dem Gewissen, und niemand konnte mich vom Gegenteil überzeugen.
    Meinen ersten Eindruck von St. Petersburg bekam ich in der darauffolgenden Nacht, als wir endlich in der Hauptstadt eintrafen. Die triumphale Pracht blieb mir wegen der abendlichen Dunkelheit vorerst noch weitgehend verborgen, doch ich sah voller Erstaunen nicht nur die beeindruckend breiten Straßen, sondern auch die vielen an mir vorübereilenden Menschen, Pferde und Kutschen, die in alle Himmelsrichtungen unterwegs waren. Eine solche Betriebsamkeit hatte ich noch nie erlebt. An den Straßenrändern standen Männer, die über kleinen umgitterten Holzfeuern Kastanien rösteten und sie an die Herren und Damen verkauften, die auf den Bürgersteigen flanierten, allesamt gewandet in Hüte und Pelze von erlesenster Qualität. Meine beiden Begleiter schienen all diese Dinge überhaupt nicht zu registrieren – vermutlich waren sie so sehr daran gewöhnt, dass es keinerlei Eindruck mehr auf sie machte –, doch ein sechzehnjähriger Junge wie ich, der noch nie mehr als ein paar Kilometer über sein Geburtsdorf hinausgelangt war, kam aus dem Staunen gar nicht mehr

Weitere Kostenlose Bücher