Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
heraus.
Vor einem dieser Feuer hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, und wir mussten unsere Pferde neben einer kunstvoll verzierten Kutsche zum Stehen bringen, bis die Leute beiseitetraten, um die Soldaten und mich durchzulassen. Ich hatte fast den ganzen Tag nichts gegessen und lechzte nach einer Tüte Kastanien. Mein Magen knurrte vor Vorfreude auf ein warmes Abendessen. Die Leute um uns herum lachten und scherzten; in vorderster Reihe befand sich eine Dame mittleren Alters, die eine ernste Miene an den Tag legte, und direkt neben ihr standen vier identisch gekleidete Mädchen – offenbar Schwestern –, jede ein bisschen jünger als die nächste. Sie waren alle sehr hübsch, und trotz des Hungers, der mir auf den Magen drückte, konnte ich den Blick nicht von ihren Gesichtern abwenden. Sie nahmen nicht die geringste Notiz von mir, bis eine von ihnen, die letzte in ihrer Reihe – ein Mädchen von etwa fünfzehn Jahren, wie ich schätzte –, sich umdrehte und auf mich aufmerksam wurde. Unsere Blicke trafen sich. Normalerweise wäre ich in so einer Situation errötet oder hätte schnell woanders hingesehen, doch ich tat nichts von beidem. Stattdessen hielt ich ihrem Blick stand, und wir schauten einfach einander an, als wären wir die besten Freunde, bis ihr mit einem Mal die heiße Tüte in ihren Händen bewusst wurde. Sie stieß einen Schrei aus, als ihr diese entglitt und zu Boden fiel. Die Tüte platzte auf, und ein halbes Dutzend Kastanien kam mir entgegengekullert. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, und das Mädchen schickte sich an, zu mir herüberzulaufen, doch eine scharfe Rüge seiner Gouvernante ließ es abrupt stehen bleiben. Es hielt einen kurzen Moment inne, bevor es sich umdrehte, um sich wieder seinen Schwestern anzuschließen.
»Madame!«, rief ich und wollte ihr mit meiner Beute nachlaufen, doch ich hatte kaum ein oder zwei Meter zurückgelegt, als mich einer meiner Begleiter grob an meinem verletzten Arm packte, woraufhin ich vor Schmerz aufschrie und die Kastanien ein weiteres Mal auf den Boden prasselten. »Bist du noch ganz bei Trost?«, fuhr ich ihn wütend an, denn es gefiel mir überhaupt nicht, dass dieses Mädchen mitbekam, wie mich etwas so Harmloses wie der Griff eines anderen Mannes in die Knie zwang. »Die gehören ihr!«
»Sie kann sich neue kaufen«, sagte er, wobei er mich zu unseren Pferden zurückzerrte, so hungrig, wie ich es gewesen war, als wir dort angehalten hatten. »Vergiss nie, welchem Stand du angehörst, Junge! Sonst wirst du dir jede Menge Ärger einbrocken!«
Ich runzelte die Stirn und schaute hinüber zu meiner Linken, wo die Frau und ihre vier Schützlinge wieder in die Kutsche stiegen und davonfuhren. Kein Wunder, dass alle Augen auf sie gerichtet waren, denn eines dieser Mädchen war schöner als das andere, mit Ausnahme der Jüngsten, die sie alle überstrahlte.
Als wir ein paar Augenblicke später das Ufer der Newa entlangritten, bestaunte ich die granitenen Eindämmungen des Flusses und die fröhlichen, sich angeregt unterhaltenden jungen Paare, die auf den Fußwegen herumbummelten. Die Menschen hier schienen glücklich zu sein – was mich überraschte, denn eigentlich hatte ich eine vom Krieg gezeichnete Stadt erwartet. Es schien jedoch so, als wäre St. Petersburg, dessen Straßen erfüllt waren von ausgelassenem Gelächter und Frohsinn, von allem Ungemach verschont geblieben. Ich platzte fast vor Aufregung.
Schließlich gelangten wir an einen prächtigen Platz, und mit einem Mal stand ich vor dem berühmten Winterpalais. In der abendlichen Dunkelheit gewährte mir der am Himmel stehende Vollmond einen atemberaubenden Blick auf das mit einer grün-weißen Fassade versehene Schloss. Wie jemand ein so außergewöhnliches Bauwerk errichten konnte, war mir ein Rätsel, doch ich schien der Einzige aus unserer Gruppe zu sein, dem es bei diesem grandiosen Anblick den Atem verschlug.
»Das ist es?«, fragte ich einen der Soldaten. »Da wohnt der Zar?«
»Ja, natürlich«, erwiderte er schroff, wobei er die Achseln zuckte und das gleiche Desinteresse an einer Unterhaltung mit mir an den Tag legte, das er und sein Gefährte schon während unserer gesamten Reise gezeigt hatten. Ich vermutete, dass sie es als unter ihrer Würde empfanden, eine so profane Aufgabe erfüllen zu müssen, wie einen Jungen in die Hauptstadt zu begleiten, während ihre Kameraden weiterhin dem Großfürsten Gefolgschaft leisten durften.
»Und da soll ich nun auch
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