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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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stellte mir vor, dass er seinen Bart einmal am Tag pflegte, frühmorgens, oder wenn es abends einen Empfang gab, noch ein weiteres Mal, als Vorbereitung auf seine Gäste. Empfing er jedoch einen so unbedeutenden Besucher wie mich, so konnte er sich diesen Aufwand sparen.
    Entgegen meinen Erwartungen war der Zar nicht in irgendein ausgefallenes kaiserliches Kostüm gekleidet, sondern in die bescheidene Tracht eines gewöhnlichen Muschiks: ein schmuckloses, vanillefarbenes Hemd, eine weite Hose und dazu ein Paar dunkle Lederstiefel. Natürlich bestand kein Zweifel, dass diese schlichten Kleidungsstücke aus feinstem Tuch gefertigt waren, doch sie wirkten bequem und einfach, und ich fühlte mich in seiner Gegenwart nun etwas entspannter.
    »Du bist also Jatschmenew«, sagte er schließlich, mit einer klaren Stimme, die weder Interesse noch Desinteresse verriet, so als hakte er lediglich einen weiteren Punkt auf seiner Tagesordnung ab.
    »Ja, Euer Majestät.«
    »Dein voller Name?«
    »Georgi Daniilowitsch Jatschmenew«, antwortete ich. »Aus dem Dorf Kaschin.«
    »Und dein Vater?«, fragte er. »Wer ist er?«
    »Daniil Wladjewitsch Jatschmenew«, sagte ich. »Ebenfalls aus Kaschin.«
    »Aha. Und? Weilt er noch unter uns?«
    Ich schaute ihn verdutzt an. »Er hat mich nicht hierher begleitet, Euer Majestät«, sagte ich. »Keiner hat mir gesagt, er solle mitkommen.«
    »Ich meine, ob er noch lebt, Jatschmenew«, erklärte er mit einem Seufzer.
    »Oh, ich verstehe. Ja, das tut er.«
    »Und welchem gesellschaftlichen Stand gehört er an?«
    »Er ist Bauer, Euer Majestät.«
    »Er bestellt sein eigenes Land?«
    »Nein, Euer Majestät. Er ist nur Landarbeiter.«
    »Du hast aber gesagt, er sei Bauer.«
    »Ich habe mich versprochen. Ich meine, er bestellt Land. Aber es gehört ihm nicht.«
    »Wem gehört es dann?«
    »Es gehört Eurer Majestät.«
    Daraufhin lächelte er und hob kurz eine Augenbraue, als er sich meine Antwort durch den Kopf gehen ließ. »Ja, genauso ist es«, sagte er dann. »Obwohl es Leute gibt, die der Ansicht sind, alles russische Land solle gleichmäßig an die Bauern verteilt werden. Mein früherer Ministerpräsident Stolypin hat eine solche Agrarreform in die Wege geleitet«, fügte er hinzu, wobei aus seinem Tonfall hervorging, dass er diese Maßnahme offenbar nicht begrüßt hatte. »Der Name Stolypin sagt dir etwas?«
    »Nein, Euer Majestät«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
    »Du hast noch nie von ihm gehört?«, fragte er überrascht.
    »Nein, tut mir leid.«
    »Macht nichts«, sagte er und wischte sich sorgfältig einen Schmutzfleck von der Bluse. »Er ist inzwischen tot. Er wurde in der Kiewer Oper erschossen, während ich in der kaiserlichen Loge saß und auf ihn hinabschaute. Ja, so nahe können einem diese Mörder kommen. Stolypin war ein guter Mann. Ich habe ihn nicht sehr nett behandelt.« Er hielt für ein paar Augenblicke inne, drückte mit der Zunge gegen die Innenseite seiner Wange und ließ die Gedanken schweifen. Obwohl ich erst ein paar Minuten in der Gegenwart des Zaren verbracht hatte, vermutete ich bereits, dass die Last der Vergangenheit schwer auf seinen Schultern ruhte – und dass die Gegenwart für ihn auch nicht viel tröstlicher war.
    »Dein Vater«, sagte er schließlich und schaute dabei wieder zu mir auf. »Bist du der Ansicht, er sollte sein eigenes Stück Land bekommen?«
    Ich dachte darüber nach, doch allein die Vorstellung verwirrte mich dermaßen, dass mir nichts Gescheites über die Lippen kommen wollte. Ich zuckte die Achseln. »Tut mir leid, von solchen Dingen weiß ich nichts«, erwiderte ich. »Aber ich bin mir sicher, was immer Ihr entscheiden werdet, es wird das Richtige sein.«
    »Ich genieße also dein Vertrauen?«
    »Ja, Euer Majestät.«
    »Aber warum? Du hast mich doch gerade erst kennengelernt.«
    »Weil Ihr der Zar seid, Euer Majestät.«
    »Und was bedeutet das?«
    »Was es bedeutet?«
    »Ja, Georgi Daniilowitsch«, sagte er ruhig. »Was bedeutet es, dass ich der Zar bin? Du schenkst mir bloß deswegen dein Vertrauen, weil ich der Zar bin?«
    »Ja … so ist es«, sagte ich, wobei ich erneut die Achseln zuckte. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
    »Man zuckt nicht die Achseln in der Gegenwart von Gottes Auserwähltem«, sagte er bestimmt. »Das ist unhöflich.«
    »Entschuldigung, Euer Majestät.«
    »Du entschuldigst dich ja schon wieder.«
    »Weil ich nervös bin.«
    »Nervös?«
    »Ja.«
    »Aber warum?«
    »Weil Ihr der Zar seid.«
    Daraufhin

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