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Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose

Titel: Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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Spukgeschichten in Erinnerung, die Asja mir in meiner Kindheit erzählt hatte, um mir Albträume zu bescheren. Mir fuhr ein kleiner Schauer über den Rücken, und so wandte ich mich nach rechts, wo ein paar Kerzen auf den Fensterbrettern flackerten. Angetrieben von einer gewissen Entdeckerfreude, begann ich, an ihnen entlangzugehen, vorsichtig und darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen.
    Auch hier waren die Türen allesamt geschlossen, doch es dauerte nicht lange, bis ich herausfand, dass die Stimmen aus einem Raum kamen, der irgendwo vor mir lag. Neugierig ging ich weiter, wobei ich mein Ohr an jede Tür presste, die ich passierte – doch hinter ihnen herrschte immer nur Stille. Was mochte in diesen Räumen vor sich gehen? Wer wohnte dort? Wer arbeitete dort? Wer erteilte von dort aus Befehle? Die Geräusche wurden lauter. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür, die nur angelehnt war. Ich zögerte, bevor ich mich ihr näherte. Die Stimmen waren nun deutlicher zu vernehmen, obwohl nur leise gesprochen wurde, und als ich durch den Türspalt lugte, sah ich in ein schlichtes Zimmer, in dessen Mitte ein Betpult stand.
    Darauf kniete eine Frau, das Gesicht in dem Polster zum Aufstützen der Ellbogen vergraben. Sie schluchzte.
    Ich beobachtete sie einen Moment, gebannt von ihrem Kummer, bevor ich den Blick zu der anderen im Raum anwesenden Person schweifen ließ, einem Mann, der mir den Rücken zukehrte und auf die Wand vor sich schaute, wo eine große Ikone an einem lumineszierenden Gobelin befestigt war. Er hatte dunkle, außergewöhnlich lange Haare, die ihm bis auf den Rücken herabhingen, dicht und zottelig, so als wären sie verfilzt, und er trug die einfache Kluft eines Bauern, die Sorte von Bluse und Hosen, die ich auch aus Kaschin kannte. Ich fragte mich, was um Himmels willen er hier in einem so schlichten Gewand verloren hatte. War er womöglich ein Einbrecher? Irgendein Dieb? Aber nein, das war unmöglich, denn die vor ihm kniende Dame trug das vornehmste Kleid, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte, und sie gehörte zweifellos in diesen Palast – wäre er ein Eindringling gewesen, so hätte sie bestimmt nicht dermaßen hoffnungsvoll zu ihm aufgeblickt.
    »Du musst beten, Matuschka«, sagte der Mann plötzlich, mit einer Stimme, so tief und leise, als käme sie aus dem finstersten Schlund der Hölle. Er breitete die Arme aus zu einer Pose, die an Jesus erinnerte, am Kreuz auf dem Hügel Golgatha. »Du musst an eine Macht glauben, die größer ist als alle Fürsten und Paläste. Du bist nichts, Matuschka. Und ich bin nichts als ein Sprachrohr, durch das man Gottes Stimme vernehmen kann. Um Seine Gnade musst du demütig bitten. Du musst dich Gott ganz hingeben, in welcher Gestalt auch immer Er sich dir zeigt. Du musst tun, was immer Er von dir verlangt. Zum Wohle des Jungen.«
    Die Frau sagte nichts, sondern vergrub ihr Gesicht noch tiefer in dem Polster des Betpults. Mich fröstelte, und ich wurde immer nervöser, als ich die sich vor meinen Augen abspielende Szene verfolgte. Gleichzeitig schlug mich das Geschehen so in den Bann, dass ich mich nicht abwenden konnte. Ich hielt den Atem an und erwartete, dass der Mann weiterreden würde, doch dieser spürte meine Gegenwart, drehte sich mit einem Mal blitzschnell um und schaute mir direkt in die Augen.
    Diese Augen! Noch heute kann ich mich daran erinnern … Sie glichen Kohlestücken, gefördert aus den Tiefen einer verpesteten Grube.
    Ich riss die Augen weit auf, als wir einander anstarrten, und mein Körper war vor Angst wie gelähmt. Lauf! , schrie eine Stimme in meinem Innern. Lauf weg! Doch meine Beine wollten mir nicht gehorchen, und so starrten wir weiter einander an, bis der Mann schließlich seinen Kopf ein wenig zur Seite neigte, als wäre er neugierig auf mich, und mich breit angrinste – ein schauriges Lächeln, bei dem aus dem höhlenartigen Dunkel seines Mundes ein gelbliches Gebiss hervortrat. Dieser grässliche Anblick reichte aus, um den Bann zu brechen. Ich drehte mich um und lief davon, den gleichen Weg nehmend, den ich gekommen war, wobei ich erneut an jener Flurgabelung landete und zögerte, unsicher, welche Richtung ich einschlagen sollte, um wieder dorthin zu gelangen, wo Graf Tscharnetzki mir zu warten befohlen hatte.
    Fest davon überzeugt, dass mir der Mann dicht auf den Fersen war, um mich umzubringen, schlug ich den einen oder anderen Haken, bis ich mich schließlich heillos verlaufen hatte. Verängstigt, völlig außer Atem

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