Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
als ich auf seine Sprechstundenhilfe wartete, und plötzlich musste ich an … also, er erinnerte mich an …«
»Ich weiß, an wen«, sagte ich leise, fast schon im Flüsterton, so als würde allein schon die Erwähnung seines Namens die Gefahr bergen, dass dieser Unhold wieder von den Toten auferstand. Ein Schnappschuss der Erinnerung blitzte in meinem Kopf auf. Ich war wieder siebzehn und bibberte vor Kälte, als ich eine Leiche ans Ufer der Newa zerrte, um sie wenig später in den Fluten zu versenken. Die Erde war mit Blut getränkt, das aus den Schusswunden sickerte, und für einen Moment lag etwas in der Luft, und mich beschlich das bange Gefühl, das Ungeheuer würde gleich wieder zum Leben erwachen und uns allen den Garaus machen. Der Raum begann sich ein wenig zu drehen, als die Erinnerung an jenen Abend in mir aufstieg, und ich zitterte. Dies war keine Sache, an die ich gern dachte. Es war etwas, an das ich nicht erinnert werden wollte.
»Er hat einen sehr beruhigenden Tonfall«, erwiderte sie, ohne auf das einzugehen, was ich gesagt hatte, denn dies war überhaupt nicht nötig. »In seiner Gegenwart fühle ich mich völlig entspannt. Ich hatte befürchtet, er würde so sein wie Dr. Hooper, aber er ist ganz anders. Er scheint sich wirklich für einen zu interessieren.«
»Und hast du ihm auch von deinen Albträumen erzählt?«
»Ja, heute«, sagte sie mit einem Kopfnicken. »Er hat mich gleich zu Anfang gefragt, warum ich überhaupt zu ihm gekommen sei. Beim letzten Mal war mir gar nicht aufgefallen, dass er mich nicht danach gefragt hatte. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich dir das alles erzähle, Georgi?«
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte ich, wobei ich zu lächeln versuchte. »Ich möchte es wissen, aber … aber nur, wenn du es mir auch erzählen willst. Für mich ist das Wichtigste, dass er dir hilft. Du sollst nicht glauben, dass du mir alles erzählen musst.«
»Danke«, sagte sie. »Ich denke, es gibt einige Dinge, die sich komisch anhören könnten, wenn ich sie dir ohne den entsprechenden Zusammenhang wiederholen würde, Dinge, die aus dem Moment heraus einen Sinn ergeben haben, wenn du verstehst, was ich meine. Aber wie dem auch sei, ich habe ihm davon erzählt, dass ich in jüngster Zeit nachts immer so oft aufwache. Und von diesen fürchterlichen Träumen, und davon, wie sie mit einem Mal wie aus dem Nichts über mich hereingebrochen sind. Es ist wirklich lächerlich, dass nach so vielen Jahren wieder diese alten Erinnerungen hochkommen.«
»Und was hat er dazu gesagt?«, fragte ich.
»Nicht viel. Er bat mich, sie ihm zu beschreiben, und das habe ich auch getan. Einige davon zumindest. Es gibt etliche, die ich ihm noch nicht anvertrauen möchte. Und danach haben wir uns über alles Mögliche unterhalten. Zum Beispiel über dich.«
»Über mich?«
»Ja.«
Ich musste schlucken, denn ich war mir nicht sicher, ob ich ihr diese Frage stellen sollte, aber ich konnte nicht anders. »Was wollte er denn über mich wissen?«, fragte ich.
»Na ja, er wollte, dass ich dich beschreibe. Das war alles. Was für ein Mensch du bist.«
»Und was hast du ihm erzählt?«
»Die Wahrheit natürlich. Wie nett du bist. Wie zuvorkommend. Wie liebevoll.« Sie hielt kurz inne und beugte sich ein wenig vor. »Wie gut du dich all diese Jahre um mich gekümmert hast. Und wie nachsichtig du bist.«
Ich sah sie an und spürte, wie mir die Tränen kamen. Meine Wut war verflogen, aber ich fühlte mich erneut verletzt. Hintergangen. Ich suchte nach den richtigen Worten. Ich wollte sie nicht angreifen. »Und du hast ihm auch von … von ihm erzählt?«
Sie nickte. »Von Henry? Ja, habe ich.«
Ich seufzte und schaute weg. Selbst jetzt noch, fast ein Jahr danach, reichte schon sein Name aus, um meine Stimmung zu verdüstern. Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass sie mich nach so vielen gemeinsamen Jahren mit einem anderen Mann betrogen hatte.
Gegen Ende des Sommers machte Arina Soja und mich mit Ralph bekannt. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete – es war schließlich das erste Mal, dass sie einen Jungen mit nach Hause brachte –, und im Grunde hatte ich eher Angst davor, ihn kennenzulernen, nicht nur, weil es mir bewusst machte, dass meine Tochter allmählich erwachsen wurde, sondern weil es mir gleichzeitig vergegenwärtigte, wie alt ich inzwischen geworden war. Ich war noch immer so töricht zu glauben, das Leben breite sich vor mir aus wie ein Blumenbeet im Frühling, wie eine Reihe von
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