Das Haus zur besonderen Verwendung - Boyne, J: Haus zur besonderen Verwendung - The House of Special Purpose
sobald ich im Badezimmer verschwunden war. »Ich beeile mich. Wann werden sie denn hier aufkreuzen?«
»Nicht vor acht. Arina sagt, sie wollen nach der Arbeit noch einen Drink nehmen, doch danach werden sie sich gleich auf den Weg machen.«
»Er ist also ein Trinker«, sagte ich stirnrunzelnd.
»Einen Drink, habe ich gesagt«, erwiderte sie. »Gib ihm eine Chance, Georgi. Wer weiß, vielleicht ist er ja ganz nett.«
Ich hatte meine Zweifel, und als ich ein paar Minuten später in der Wanne lag und die Ruhe und Behaglichkeit des warmen Seifenwassers genoss, grübelte ich weiterhin über die beunruhigende Tatsache, dass Arina nun das Alter erreicht hatte, wo ihre Gedanken unentwegt um das andere Geschlecht kreisten. Erst gestern schien sie noch ein Mädchen gewesen zu sein oder, besser gesagt, noch ein Baby. Tatsächlich kam es mir so vor, als wäre es erst wenige Jahre her, dass Soja und ich verzweifelt unter der Vorstellung gelitten hatten, wir beide müssten kinderlos bleiben. Mein Leben, so erkannte ich, schwand dahin. Ich war jetzt vierundfünfzig. Wie hatte das geschehen können? War es nicht erst einige Monate her, dass ich im Winterpalais eingetroffen und Graf Tscharnetzki durch goldene Flure zu meiner ersten Begegnung mit dem Zaren gefolgt war? Und war es nicht erst zu Beginn dieses Jahres gewesen, als ich an Bord der Standart ein bisschen Zeit für mich selbst gefunden hatte, weil die kaiserliche Familie einem Konzert des St. Petersburger Streichquartetts beiwohnte?
Nein, dachte ich, und schüttelte den Kopf angesichts meiner Dummheit, während ich noch tiefer in das Badewasser eintauchte. Nein, das war es nicht. Das lag Jahre zurück. Jahrzehnte.
Jene Tage gehörten zu einem gänzlich anderen Leben, zu einem Leben, über das wir nicht mehr sprachen. Ich schloss die Augen und ließ meinen Kopf unter Wasser sinken. Während ich den Atem anhielt, hallte das Echo der Vergangenheit in meinen Ohren und in meiner Erinnerung wider, und mit einem Mal befand ich mich wieder in jenen schrecklichen, herrlichen Jahren zwischen 1915 und 1918, als sich die Tragödie unseres Heimatlandes direkt vor meinen Augen entfaltete. Der wirklichen Welt entrückt, konnte ich wieder den scharfen Biss des Winters am Newaufer verspüren, wie er mich so heftig an der Nase zwickte, dass es mir vor Schreck den Atem verschlug. Ich konnte die Gesichter des Zaren und der Zarin so klar und deutlich erkennen, als stünden die beiden unmittelbar vor mir. Und der Duft von Anastasias Parfüm erfüllte meine Sinne wie in einem Traum, gefolgt vom verschwommenen Bild eines jungen Mädchens, in das ich mich einst verliebt hatte.
»Georgi«, rief Soja, klopfte an die Badezimmertür und streckte ihren Kopf herein. Ihr Anblick ließ mich sofort aus dem Wasser emporschnellen und nach Luft schnappen, während ich mir die nassen Haare mit den Händen aus der Stirn wischte. »Georgi, sie werden gleich hier sein!« Sie hielt inne, womöglich beunruhigt von dem unerwarteten Ausdruck von Trauer und Bedauern, den sie in meinem Gesicht entdeckte. »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Stimmt was nicht?«
»Nein, es ist alles in Ordnung.«
»Ach ja? Du weinst doch.«
»Das ist nur Badewasser«, korrigierte ich sie, fragte mich allerdings, ob sich das Seifenwasser unbemerkt mit meinen Tränen vermischt haben konnte.
»Deine Augen sind gerötet.«
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte ich. »Ich habe bloß an etwas gedacht.«
»An was denn?«, fragte sie, mit einem ängstlichen Unterton in ihrer Stimme, so als fürchtete sie sich vor meiner Antwort.
»Ach, an nichts Wichtiges«, sagte ich mit einem Kopfschütteln. »An jemanden, den ich einmal gekannt habe, das ist alles. Jemand, der schon vor langer Zeit gestorben ist.«
Es gab Momente, wo ich sie für das hasste, was sie getan hatte. Ich hätte nie gedacht, dass ich für Soja einmal etwas anderes empfinden würde als Liebe, doch es gab Zeiten, wo ich vor Wut und Enttäuschung am liebsten laut aufgeschrien hätte, wenn ich nachts hellwach neben ihr im Bett lag und mein Körper sich so anfühlte, als würde er sich in Luft auflösen, sobald ich sie berührte.
Als es vorbei war und wir den Bruch in unserer Ehe zu kitten versuchten, traute ich mich, sie zu fragen, wie es überhaupt dazu gekommen war.
»Ich weiß es nicht, Georgi«, sagte sie, wobei sie seufzte, so als wäre es unhöflich von mir, darauf eine Antwort zu erwarten.
»Du weißt es nicht?«, wiederholte ich, wobei ich die Worte förmlich
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