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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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minutenlang danach suchen müssen), jetzt waren alle Trottoirs plötzlich wieder leer, die Kirchenversammlung hatte sich automobiltechnisch aufgelöst.
    Anschließend Heimfahrt, Garage, Haus, Eßzimmer, sonntägliches Mittagessen; glücklicherweise waren auch meine Großmutter und mein Onkel J. regelmäßig zu Gast. Aber auch ihre Anwesenheit half dann nicht viel, alles lief dennoch genauso beschwert und grausam ab wie beim Abendessen, nur schien es auch ihnen nichts auszumachen. Die Speisen wurden von meiner Mutter hereingebracht, manchmal unter der Mithilfe meiner Großmutter. Dann standen die Speisen auf dem Tisch, aber es war, als liege ein Bann über ihnen, keiner rührte sie an, statt dessen kam es wieder zu einem Gebet, und als das Gebet vorüber war, lag immer noch ein Bann über den Speisen. Er wurde erst gelöst, als meine Mutter mit einem Löffel aus einer Schüssel die Beilagen, Kartoffeln oder Nudeln, zu verteilen begannoder mit einem Tranchiermesser, das sie in der Küche frisch geschärft hatte, den Braten anschnitt oder den Salat bzw. das Gemüse herumgab. Währenddessen wurden meine beiden Geschwister examiniert (ich war noch zu jung dafür). War die Großmutter väterlicherseits aus Frankfurt da, die Frau des Oberfinanzpräsidenten, wurden die Examina intensiviert. Die Großmutter aus Frankfurt war die Steigerung ihres Sohnes, meines Vaters. Dieser examinierte nur, indem er nach der Schule fragte, den dort erbrachten Leistungen und den dort zu erfüllenden Aufgaben, oder nach dem Kindergarten und der Art und Weise, wie dort der Kindergärtnerin entgegengetreten wurde. Diese Fragen waren übrigens weder mit einem besonders autoritären Gehabe noch einem absichtlich ausgeübten Druck verbunden, es schien vielmehr, als habe er keine anderen Themen und als fiele ihm ansonsten nichts weiter ein. Vielleicht hatte er es in seiner eigenen Familie nicht anders erlebt. War allerdings jene Großmutter da, wurden die Examina existentiell. Dann mußten Messer gereicht werden, Gabeln, indem die Kinder (Bruder, Schwester) die Messer bzw. Gabeln am Griff nehmen, die Zinken bzw. die Schneide auf den eigenen Körper richten und sie auf diese Weise der Großmutter und Frau des Oberfinanzpräsidenten geben sollten, was mein Bruder immer ohne eine Miene zu verziehen tat, meine Schwester freilich nicht. Diese war an soetwas nicht gewöhnt, vor allem nicht daran, eine Konkurrentin am eigenen Tisch zu haben, und zwar eine mit weitaus größeren Machtmitteln. Natürlich verweigerte die Schwester das Examen. Dann wurde sie aus dem Eßzimmer hinausgeführt, denn mein Vater wollte sich vor seiner Mutter nicht blamieren, die Kinder sollten gehorchen, man nannte es damals hören . Die Schwester hörte nicht. Niemand hat das Regiment meiner Frankfurter Großmutter je so zu spüren bekommen wie meine Schwester, und möglicherweise hat sie darauf einen Racheschwur getan für das ganze Leben. So saßen wir am Tisch und aßen. Zu mir war die Großmutter aus Frankfurt sehr freundlich, denn noch hatte ich ja nichts falsch gemacht und besaß immer noch den Kleinkinderbonus, allerdings fand sie es vollkommen unbegreiflich, wieso ich nicht in den Kindergarten ging.
    Meine Geschwister reagierten unterschiedlich auf die Sonntagsbesuche. Mein Bruder verhielt sich still, aufmerksam und höflich. Er saß dabei, war weder unruhig noch gelangweilt oder unkonzentriert, und wenn man ihn ansprach, gab er sehr sachlich Antwort, so wie er überhaupt in allem meist sehr sachlich war. Vor allem war er immer vollkommen aufrichtig, sogar meinem Onkel J. gegenüber. Er redete niemandem nach dem Mund, und er gab auch nie die erstbesten Antworten, sondern interessierte sich für die Frage, dachte über sie nach und nahm denFragenden ernst, was regelmäßig zu absurden Situationen führte, weil die Besucher die meisten Fragen, die sie uns Kindern stellten, ja gar nicht ernst meinten. Andererseits neigte mein Bruder auch nicht zu kindlichem Dozieren. Er gierte auch nicht danach, unsere Besucher in den Keller in den Hobbyraum zu locken, um ihnen dort die inzwischen ins Riesenhafte angewachsene Modelleisenbahn zu zeigen, die im Bastelraum schon lange keinen Platz mehr hatte. Er führte sie nur hinab, wenn sie den Wunsch anmeldeten. Dann zeigte er ihnen verschiedene Manöver und Weichenstellungen und Streckenverläufe, übrigens ohne einen Anflug von Stolz, und erklärte sachlich die Funktionsweise der Bahn. Ich habe oft erlebt, daß mein Bruder nach solchen

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