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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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Scheren, eine Feile, diverse kleine Farbtöpfe, Plastikteile, halbfertige Schiffe, Flieger, Bögen mit Militärzeichen, die man in Wasser ablösen und auf die Modelle heften konnte, auch Hakenkreuze, denn mein Bruder baute neben anderem auch nationalsozialistisches Gerät, ohne besonderes Augenmerk auf geschichtliche Zusammenhänge. Die Hakenkreuze im Keller waren die ersten, die ich in meinem Leben sah, allerdings gefiel mir das Abzeichen der Royal Air Force wesentlich besser. Auch die Saturn-Rakete entstand dort auf dem Tisch, ebenso wie das Raumschiff Enterprise. Ich schaute bewundernd und gebannt zu, wenn ich meinen Bruder dort unten besuchte. Er saß den ganzen Nachmittag am Tisch und schuf und erbaute, dauernd sah ich neue, komplizierte Dinge entstehen. Oder er baute an der Eisenbahn, damals noch seinem zweiten Modell, noch klein und nicht größer als die Tischplatte eines Beistelltischs, aber bereits von ihm selbst verkabelt und mit Signalen versehen. Es war für mich, als entstünde dort eine ganze Welt und als sei mein Bruder der Baumeister dieser Welt, wodurch er natürlich die faszinierendste Person in der Familie für mich war.
    Wenn ich in seinem Raum war, stand ich stumm da. In dem Augenblick, da ich dieses Schaffen und Bauen betrachtete, war ich gebannt. Vor allem schien mir diese Tätigkeit viel wundersamer und schwieriger zu sein als alles, was ich sonst von meiner Familie kannte. Am wunderlichsten war dieser Kellerraum, wenn es Frühling wurde, mein Bruder die Tür und das Fenster aufsperrte, um die Dämpfe der Farben hinauszulassen, die Kübel und die Pflanzen aber noch nicht wieder hinaufgeräumt worden waren. Dann strömte Licht in den Raum, Insekten kamen hereingeflogen und -gekrochen, und der Raum füllte sich binnen kurzem mit den verschiedensten Formen von Leben, eine Spinne lief über die weiße Wand, erste Fliegen wurden hörbar, manchmal kam ein Wurm über die Schwelle, und durch das offene Fenster kroch eine Schnecke. Ganz gebannt war ich, wenn ein Schmetterling hereinkam, oder vielleicht auch zwei, und wenn sie dann um die Oleanderstöcke zogen und umherflatterten in einem gemeinsamen Tanz, in dem jede Bewegung des einen Falters auf die des anderen bezogen war, in einer schier unbegreiflichen, aber sichtbaren und für mich, das Kind, erspürbaren Logik. Jede Bewegung war wie das Selbstverständlichste von der Welt und mußte genau so sein und war doch immer überraschend und unerwartet. Im Kellerraum habe ich oft Schmetterlinge zwischen all den Farben und Dämpfen und Kübeln gesehen, zwischen den hakenkreuzbewehrten Leitwerken und Flügeln der Modelle meines Bruders, auch eine V2 stand dort unten, abschußbereit auf einer kleinen grünen Plastikplatte, die ein Stück frischen, grünen Rasen darstellte. Abschußbereit, als gelte es England noch einmal anzugreifen. Alle Einzelheiten in diesem Zimmer, von der Schnecke über die V2 bis hin zu den Farbdämpfen und den nun schon teils erblühenden Pflanzen, gehörten für mich zusammen, ich liebte diesen Raum. Mein Bruder war froh, wenn die Pflanzen schließlich hinaufgeräumt wurden, dann hatte er mehr Platz. Ich dagegen war traurig und vermißte sie und besuchte sie manchmal im Garten. Für mich gehörten sie eigentlich in den Keller.
    Die übrigen Kellerräume, abgesehen vom großen Hobbyraum, waren vollkommen anders, düster und unwirtlich. In ihnen zeigte das Haus sein eigentliches, wenn auch verborgenes Gesicht. Auch mit diesen Räumen bin ich aufgewachsen.
    Neben dem Bastelraum lag der Abstellraum, ein Raum mit einem ganz kleinen Fenster. Es war der Raum, in den mein Onkel J. immer hinablaufen mußte, wenn es Sonntag war und er Bier holen oder die Kisten aus der Garage im Keller abstellen sollte. Dort lagerten Werkzeuge und Gartengeräte in Eisenregalen, dort stand der Haustrunk, also die Bierkisten der Henninger Brauerei, dort war das Weinregal, und es gab auch bald bereits die erste Tiefkühltruhe, die dort im Halbdunkel herumstand. Als die Truhe kam, erzählte man zur Warnung Geschichten von kleinen Kindern wie mir, die in die Truhen fielen und starben. Kinder wie ich, hieß es, kletterten spaßeshalber hinein, dann fiel der Deckel zu, und man war rettungslos verloren und erfror. Kaum waren diese Kühltruhen in unsere bundesdeutschen Haushalte gekommen, mußten also gleich Kühltruhenhorrorgeschichten mitgeliefert werden, um die Kinder zu warnen wie vor dem bösen Mann, der die Kinder holt. Ich stellte mir vor, daß die

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