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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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inzwischen ja etwas passiert, vielleicht habe sogar der liebe Gott eingegriffen und die Zeit angehalten oder die Ordnung der Dinge geändert, so daß vielleicht noch nicht gleich der Wecker klingeln und meine Mutter ins Zimmer hineinkommen wird, damit ich das Bett verlasse, denn ich habe ab dem Klingeln und dem Erscheinen der Mutter noch genau eine Stunde Zeit, sechzig Minuten bzw. dreitausendsechshundert Sekunden, bevor die Schule beginnt.
    In einer Stunde werde ich, Grundschüler, im Schulhof der Musterschule in Friedberg in der Wetterau stehen, in Reih und Glied, und auf den Einlaß ins Hauptgebäude und den im Erdgeschoß gelegenen Klassensaal der »a« warten.
    Jetzt, wie ich noch im Bett liege und es noch nicht sieben Uhr ist und die Mutter noch nicht da ist, sehe ich bereits vor mir, wie es nachher auf dem Schulhofin den Minuten vor dem Einlaß sein wird. Es wird wie jeden Morgen sein. Ich laufe auf den Schulhof durch das große Tor, das jeden Morgen vom Hausmeister aufgesperrt wird, und dann liegt der Schulhof vor mir, auf dem sie herumrennen und herumschreien und herumtoben und sich gegenseitig die Ranzen von den Schultern ziehen und sich ins Gesicht schlagen oder gegen das Schienbein treten und im Gespräch sind und sich Dinge zeigen und sich unterhalten und zusammenfinden oder wieder auseinanderstreben.
    Das Bild meiner Angst und aller meiner damaligen Tage, wie ein Gemälde von Brueghel liegt es vor mir, der Schulhof und die Schüler und die Lehrer und die Schule. Ich hatte erlebt, wie sie zuerst, am Tag der Einschulung, mit ihren Schultüten auf dem fremden Hof herumgestanden und gegrinst oder geweint und sich da bereits, am ersten Tag, in der ersten Stunde und schon in der ersten Minute, kennengelernt hatten, wie sie dann an ihre Schultische gesetzt wurden, ich unter sie, und wie sie begannen, sich in den Pausen ihre Milchtüten zu holen, wie sie ihre Brote auspackten, wie sie die ersten Schreibhefte bekamen, wie sie die Buntstifte in die Hand nahmen und mit riesigen, unförmigen Buchstaben zu schreiben begannen und wie sie, kaum ging es auf die Pause zu, aufsprangen und laut wurden und sich zusammenballten und sich abstießen, wie sieso seltsam schnell und laut und bunt und grimassierend wurden, wie sie binnen kürzester Zeit zu kommunizieren und zu interagieren begannen in jeder freien und unbeaufsichtigten Sekunde, als seien sie nicht einzelne Wesen, sondern als seien sie insgesamt ein Wesen, ein vielköpfiges, hundertarmiges, breit im ganzen Klassenraum und über dem ganzen Schulhof liegendes Schulwesen. Ich hatte erlebt, wie im Verlauf der Jahre sich bei den ersten Mißerfolge einstellten, wie sie ihre Mienen zu verziehen begannen, wie sie sich in Feindschaft gegen den einen oder anderen Lehrer oder gegen den einen oder anderen Schüler zusammenballten und dann auf den Schulhof zogen, um dort herumzurennen und Fußball mit kleinen grünen oder roten Plastikfläschchen zu spielen, jeden Tag, jede Stunde, das ganze Jahr über immer wieder, im Sommer, im Herbst, im Winter und im Frühling, und all das war meine Welt geworden, vor der ich selbst dann, wenn ich gar nicht in der Schule war, ständig Angst hatte, schon morgens im Bett.
    Noch eine Stunde bis dahin.
    Wenn ich oben am Eingang des Schulhofs stand, dachte ich, solange du stehenbleibst, ist noch nichts geschehen, wie zu Hause, wenn ich Geräusche am Hoftor hörte und dachte, solange sie nur am Hoftor und nicht an der Haustür sind, kann nichts geschehen, solange bist du noch bewahrt und gerettetund kannst es genau so lang noch aushalten. Und wirklich dachte ich jedesmal am Schuleingang, vielleicht wird noch ein letztes Mal alles wieder gut sein, und dann kann ich für immer hier oben am Tor stehenbleiben vor diesem Bild und muß nicht hinein, und die Zeit gibt es einfach nicht mehr und hebt sich auf und hört einfach auf zu sein. Und vielleicht kann ich ja dann alles vergessen und insbesondere meine Schultage und alle diese Menschen und Schulsäle um mich herum, und alles wird dann wieder klar und einfach und so, als habe es das nie gegeben. War vielleicht nur ein schlimmer Traum, eine Täuschung … Aber in diesem Augenblick haut mir bereits A oder B auf die Schulter, ebenfalls den Schulhof betretend, und zieht mich entweder am Schlafittchen oder am Arm oder freundschaftlich untergehakt die ersten Meter auf den Schulhof und in die kreischende Schar der Schüler hinein. Links im Bild, nahe der Sporthalle, mache ich dann auch bereits den Zug

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