Das Haus
die Zeit. Im Grunde habe ich von den Jahren vor der Schule vor allem in Erinnerung, wie ich dort unten im kleinen Bastelraum saß, allein mit mir und aufgegangen in einer Tätigkeit, die mich völlig aufhob. Ich war aus der Familie ausgeklinkt und lebte so lautlos und zufrieden vor mich hin wie am Anfang bei meiner Urgroßmutter, als noch alles einfach und problemlos gewesen sein soll. Es war das wiedergefundene Paradies. Vor den Fenstern sah ich die Kinder draußen spielen und verstand nicht, was sie taten, aber es interessierte mich auch nicht, und ich beachtete sie nicht weiter. Sie wußten nichts vonmir. Der Gedanke, daß ich doch einmal mit ihnen zusammenkommen würde, und zwar bei unserer gemeinsamen Einschulung (der meine Eltern mit Angst entgegensahen und auf die sie mich, anders als damals beim Kindergarten, gar nicht erst vorzubereiten versuchten), existierte für mich in dieser Zeit nicht. Es ging für mich keine Bedrohung von ihnen aus, etwa dergestalt, daß ich bei ihren Spielen hätte mitmachen und zu ihnen dazuzugehören sollen. Sie waren einfach nur da draußen und kümmerten mich nicht.
Mindestens ebensogern wie die Zeit im Bastelraum mochte ich die Nacht. Nicht nur wegen des Alleinseins, sondern auch, weil dann alles still war und eigentlich gar nichts mehr geschehen konnte. Durch das Fenster kam noch fernes Laternenlicht von draußen herein. Je länger ich meinen Kopf hin und her wiegte, desto heller und farbiger wurde es in meinen Augen. Am Anfang der Nacht waren es noch lebende, mir bekannte Personen, von meinem Verstand eingebildet, Erinnerungen an die Urgroßmutter, vielleicht ihr Gesicht, wie sie sich über mich beugt und zu mir in ihrem Wetterauer Dialekt spricht, aber dann erschuf mein Gehirn aus den eingebildeten Lichtreflexen unter meinen Augenlidern seine eigenen Figuren, lebendige Muster, von meiner Phantasie mit Leben begabte Wesen, die aber nur so etwas wie eine organische Reaktion meiner Augenauf die Dunkelheit waren. Sie waren grün, rot, gelb, blau, sie schillerten in allen Farben und hatten phantastische Formen, waren aber zugleich wie die Menschen meiner nächsten Umgebung. Traumgebilde, aber für das Kind eine höhere Form von Realität. Schon lange hatte ich eine Art von Freundschaft mit diesen Nachtfiguren geschlossen. Sie erzählten mir Geschichten und ich ihnen, aber sie konnten auch jedesmal durch meinen Wunsch in einen vorherigen, amorpheren Zustand zurückgleiten und wieder zu rein ornamentalen, seelenlosen, aber doch lebendig bewegten Figuren werden. Mit diesen Figuren in meinen Augen konnte ich mich beschäftigen wie mit Mustern, die man in einem Teich verursacht, indem man einen Stab hineintaucht und durch kreisende Bewegungen Höfe und andere Formen erzeugt. Bis heute kommt es mir vor, als habe damals mein Kopf begonnen, mir eine Geschichte zu erzählen, die Geschichte meiner Welt oder der Welt schlechthin. Vielleicht erzählten mir diese Geschichte auch meine Augen, meine Retina, vielleicht waren es meine überstrapazierten Nerven oder der liebe Gott, keine Ahnung. Vielleicht war es einfach die Welt, die mir die Welt erzählte. Seitdem ist mir immer dieser Gedanke geblieben, daß ich nach wie vor daliege und daß es noch immer damals ist, noch vor der Grundschulzeit und eigentlich noch zur Zeit meiner Urgroßmutter, und daß dennoch alles bereits da undkomplett vorhanden ist bis zum heutigen Tag, da ich im Zimmer meines Onkels sitze und dieses schreibe, das Zimmer, das Haus und alles weitere, die ganze Ortsumgehung, während sie draußen ihre Ortsumgehung bauen und meine Herkunft und alles, wovon ich schreibe, Zug um Zug ins Einstmals planieren. Und daß ich in die mir kaum mehr vorstellbare Einfachheit und Einheitlichkeit der damaligen Welt meiner allerersten Jahre zurückkommen muß, um von dort aus alles weitere aufzubauen, das Haus, meine Kindheit darin, die Schulzeit, meine Familie, meine Umgebung, die anderen Menschen, auch das Draußen, den Ort um mich herum, die Wetterau, meine ganze Herkunft und schließlich die ganze Welt bis hin zum lieben Gott. Eine Einfachheit, die mein geburtsbehinderter Onkel J. zeit seines Lebens vielleicht nie verloren hatte.
DRAUSSEN
E s ist gegen sieben Uhr morgens, und ich warte auf das Geräusch des Weckers, von dem ich weiß, er wird gleich klingeln, aber solange er noch nicht geklingelt hat, ist noch nicht alles völlig zerstört und in Unordnung, sondern ich kann noch liegenbleiben und mir vorstellen, vielleicht sei
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