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Das Haus

Das Haus

Titel: Das Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Maier
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sich ein wenig zu ihnen hin, damit sie seinen Schwanz besser sehen konnten, anschließend lachten sie gemeinsam dreckig wie die Verbrecher. Wettspiele gab es natürlich aller Arten. Sie richteten ihren Strahl in die Höhe und in die Weite oder versuchten sich in Kunstfiguren, etwa Achten oder dergleichen. Manche griffen auch anderen, die gerade fertig waren, von hinten in die geöffnete Hose, bis sie den fremden Schwanz in der Hand hatten, dann lachten sie wieder dreckig wie die Verbrecher, und allen machte es Spaß. Nein, es machte nicht allen Spaß, aber bevor die, denen es nicht Spaß machte, sich aussortieren und in die Ecke stellen ließen, griffen sie lieber selbst von hinten zu und lachtendreckig und strahlten um die Wette und riefen die Namen der Mädchen, denen sie nachher gleich zeigen wollten, wie hoch oder weit sie kommen mit ihrem Strahl. Oder sie planten einen kollektiven Überfall auf die Mädchentoilette, wobei einige das Gesicht verzogen und sagten, Mädchentoilette, das sei doch ekelhaft, da seien doch überall Mädchen und Mädchenpisse. Mädchenpisse war etwas kategorial anderes als Jungenpisse und somit ekelhaft. Und kam man aus dem Raum wieder heraus, trug man den Geruch und die Erinnerung danach noch stundenlang mit sich herum, im Grunde genommen ein ganzes Leben lang. Nein, ich ging lieber weder zum Hausmeister noch aufs Bubenklo, allerdings dauerte die Pause immer noch unerträglich lang, mindestens sieben oder acht Minuten. Was hätte ich tun können? Es gab keinen Ausweg. Die Zeit fror fest um mich herum. Ich verfiel in eine Starre, und wenn dieses Kind jetzt noch jemand ansprach, reagierte es gar nicht mehr. Es war festgefroren bis zum Pausengong. Dann wieder: Aufstellen, Reih und Glied, hinein in den Klassensaal, und dann wieder: nächste Pause, nächster Schulhofgang, nächste fünfzehn Minuten Pause, nächstes Festfrieren.
    Noch immer klingelt der Wecker nicht, aber ich liege bereits lange wach. Jeden Morgen komme ich irgendwann zu mir und beginne nach einer Weile automatisch damit, mir auszumalen, was mir in einer Stunde bevorstehen wird. Und ich kuschele mich an mein Kissen und versuche ein wenig Wärme und Zutrauen von ihm zu bekommen, und ich ziehe mir die Decke über den Kopf, als könnte das helfen. Und immer der Gedanke: Vielleicht wird ja alles gut. Vielleicht ist ab heute alles anders geworden, über Nacht, während ich geschlafen habe. Vielleicht hat der liebe Gott endlich eingegriffen, auch wenn ich dann meine Klassenlehrerin vielleicht nicht mehr wiedersehen werde, aber ich werde dann endlich wieder allein sein können, allein im Haus mit seiner Stille.
    Der Wecker klingelt, und kurz danach kommt meine Mutter herein. Das erste, was sie tut, ist, durchs Zimmer zu gehen und das Fenster zu schließen. Und ich, das Schulkind, liege da und muß nun aufstehen in den Tag hinein, der so sein wird wie der gestrige Tag. Nach der Verweigerung des Kindergartens hatte ich noch drei Jahre im wiedergefundenen Paradies gelebt. Aber das neue Gesetz hatte das alte Gesetz jetzt endgültig ausgelöscht, und der liebe Gott änderte daran nichts mehr. Auch diese Nacht hatte er die Welt nicht geändert. Meine Augen wanderten zu den Bäumen jenseits des Usa-Ufers hinüber. Jeden Abend schlief ich mit ihnen ein, jeden Morgen wachte ich mit ihnen auf. Da Friedberg nachts nie ganz dunkel wurde und das jenseits der Schrebergärten am anderen Ufer gelegene Zuckerrübenfeld immer im matten Licht einer Relaisstation (Oberhessische Versorgungsbetriebe AG) lag, sah ich die Linden auch bei Neumond. Abends waren sie oft die letzten Lebenszeichen, die ich mit hinein in meinen Schlaf nahm, wie ihre Blätter im Wind rauschten, oder wie sie in einem Herbststurm hin und her gerissen wurden, und selbst wenn sie im Winter wie Knochenhände aussahen, hatte ich als Kind nie Angst vor ihnen, im Gegenteil, sie kamen mir vor wie eingewintert, wie in einem Winterschlaf eingeigelt. Und weil über Nacht mein Fenster angelehnt und nicht geschlossen war, kam zu den Linden immer das lebendige Geräusch der Usa dazu, das leise Plätschern, als redete der Fluß mit mir. Der Fluß war immer da, nicht anders als die Bettdecke, die nachts auch immer da war und mich freundlich einhüllte und auf meiner Seite der Welt war, auch wenn sie mir am nächsten Morgen irgendwann mit sanftem Nachdruck weggezogen wurde, wenn ich zu lange liegenblieb.
    Ich steige aus dem Bett, und schon nach einer Minute schaut einer der beiden Eltern, Mutter

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