Das Hausbuch der Legenden
erzählte ihm, warum er fliehen mußte. Aber von Reue war dabei nicht viel die Rede. Vielleicht war dazu auch nicht genügend Zeit; denn man hörte schon die lärmenden Häscher. Der Alte sagte:
»Siehst du das Aas dort liegen? Wenn du willst, krieche hinein!« Dem Dieb blieb nichts anderes übrig, als in das tote Tier zu kriechen, wenn er sein Leben retten wollte. Er kroch in das Aas. Der alte Mann aber war verschwunden, wie von der Erde verschlungen. Er war der heilige Nikolaus.
Dann kamen die Verfolger. Sie ritten weit in das Ödland. Sie suchten vergeblich nach Spuren. Aber sie fanden nichts. Sie machten noch eine Runde und beobachteten den Waldrand.
Dann kehrten sie um. Der Dieb lag inzwischen in dem Aas und konnte kaum atmen; das verwesende Fleisch roch widerlich, und tausend Aasfliegen quälten ihn. Deshalb kroch er so schnell wie möglich heraus, nachdem die Verfolger
verschwunden waren. Und da stand auch der Alte wieder und sammelte Wachs. Der Dieb ging zu ihm und bedankte sich für die Rettung. Der Alte aber fragte ihn noch einmal: »Was hast du dem heiligen Nikolaus versprochen, als du einen
Unterschlupf suchtest?« Der Dieb antwortete: »Ich versprach, ihm eine Groschenkerze zu weihen.« Da wetterte der Alte los:
»Da haben wir’s, du Gauner! Genauso wie dir der Aasgestank den Atem nahm, würde dem heiligen Nikolaus der üble Dunst deiner gestohlenen Kerze den Atem rauben.« Dann erteilte ihm der Alte eine Lehre: »Lasse dir nicht noch einmal einfallen, unseren Herrgott oder einen seiner Heiligen um Hilfe bei einer bösen Tat zu bitten. Böse Taten segnet der Herr nicht. Denke immer an meine Worte und gib sie an alle Menschen weiter, mit denen du ins Gespräch kommst. Keiner soll bei schlechten Taten Gott um Hilfe bitten! Und keiner soll hoffen, daß der Herr ihm verzeiht, wenn er seine Untaten nicht bereut!« Das sagte der heilige Nikolaus zu dem Dieb. Dann verschwand er.
Die demütige Pförtnerin
BEATRIX WAR sehr jung, als sie ins Kloster ging. Sie kannte die Welt noch nicht, die sie verließ. Aber sie war fröhlich und fromm und tüchtig. Ihre Oberin vertraute ihr bald das Amt der Pförtnerin an. Mit den Jahren wuchsen aber die Schönheit und die Anfechtungen, welche die junge Klosterfrau bestehen mußte, vor allem das Verlangen, die unbekannte Welt jenseits der Klostermauern kennenzulernen. So kam es, daß sie eines Nachts vor den Altar Unserer Lieben Frau trat und sagte:
»Liebe Frau Maria! Ich habe dir manches Jahr gedient, so gut ich es vermochte. Nun drängt mich mein unruhiges Herz, diese Klostermauern zu verlassen und in die fremde Welt zu gehen.
Nimm du die Schlüssel, die man mir anvertraut hat!« Mit diesen Worten legte sie die Schlüssel auf den Altar, verließ das Kloster und ging ihrer Sehnsucht nach in die Welt. Sie genoß das neue Leben in vollen Zügen und vergaß darüber das Kloster mit seinen Pflichten. Aber sie betete täglich zur Mutter Maria. Erst nach fünfzehn Jahren plagte sie die Reue. Sie faßte sich ein Herz, ging bis zur Klosterpforte und fragte die Pförtnerin: »Ist hier im Kloster eine Frau Beatrix? Sie war auch einmal Pförtnerin.« Die Schwester antwortete: »Oh, die Schwester Beatrix kenne ich gut! Sie ist eine fromme Frau, uns allen ein Vorbild wegen ihrer großen Demut.« Als Beatrix das hörte, erschrak sie. Sie wandte sich schnell ab, um zu gehen.
Da trat statt der Schwester Unsere Liebe Frau auf sie zu, nahm sie am Arm und sagte: »Komm nur wieder herein zu uns und bessere dich! Ich habe die ganzen Jahre an deiner Stelle Pfortendienst gemacht. Du hast mir ja seinerzeit die Schlüssel auf den Altar gelegt.« Da folgte Beatrix der Mutter Maria ins Kloster, tat Buße und erzählte allen Frauen, welch große Gnade sie erfahren hatte.
Der ungehorsame Engel
IN EINEM DORF, das irgendwo in Rußland an der Oka lag oder vielleicht auch am Dnjepr, war eine junge Frau mit Zwillingen niedergekommen. Es war eine schwere Geburt, und Gott schickte einen Engel aus, der ihre Seele zu ihm rufen sollte.
Der Engel suchte das kleine Dorf lange im tiefen Schnee. Dann sah er die zwei winzigen Kinderchen auf dem Ofen liegen. Er brachte es nicht übers Herz, die Seele der Frau zu nehmen. Er flog ohne sie zu seinem himmlischen Vater zurück. Gott fragte ihn: »Nun, hast du die Seele der armen Frau mitgebracht? Wo ist sie?« Der Engel aber mußte antworten: »Nein, Herr!« Da grollte der Herr und fragte wieder: »Was soll das heißen?
Warum hast du meinen Befehl nicht
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