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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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der Verschiedenen sich mit dem Hauch des Lebens gerötet hatte und daß der Atem aus ihrem Munde kam und ging. Der
    Baalschem gebot, sie aus dem Grabe zu heben. Es geschah, sie stand aufrecht und blickte um sich. Da trat der Meister zurück und befahl dem Bräutigam, er möge unverzüglich und
    schweigend die Braut in ihre Schleier kleiden lassen, sie zum Baldachin führen und des Geschehenen mit keinem Wort gedenken. Der Bräutigam aber bat ihn, er möge es sein, der die Ehe segne. So führten sie die Verschleierte ins Haus unter den Baldachin. Als der Baalschem aber die Stimme erhob und den Ehesegen über das Paar sprach, riß die Braut sich die Schleier vom Gesicht, sah ihn an und rief: »Dieser ist der Mann, der mich losgesprochen hat.« Da fuhr der Baalschem sie an:
    »Schweig!« Die Braut verstummte. Ehe die Leute sich
    besannen, hatte der Meister das Haus verlassen. Später, als alle Hochzeitsgäste beim Mahl saßen und die Schatten der
    vergangenen Ereignisse zu weichen begannen, hob die Braut selbst an, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Bräutigam war bereits einmal vermählt gewesen, und als Witwer hatte er sie zur Frau begehrt. Das erste, verstorbene Weib aber war ihre Tante gewesen und hatte sie als kleine Waise bei sich aufgenommen und gehegt und neben sich im Hause groß
    werden lassen. Da geschah es, daß die Frau krank wurde und ihr nimmer zu helfen war, und sie selbst verstand wohl, daß ihrer Zeit nun das Ende kam. Da legte es sich ihr schwer in den Sinn, daß, wenn sie ein Weilchen tot wäre, ihr Mann, der noch nicht alt war, es wohl kaum werde lassen können, eine andre an ihre Stelle zu erheben. Und wie sie nachsann, begriff sie, daß es ihre junge Verwandte sein würde, die so gut Bescheid wie in heilen Tagen sie selbst in allen Geschäften des großen Hauses wußte und lieblich anzusehn ihm zu jeder Stunde des Tages vor Augen sein würde. Und weil sie selbst ihren Mann sehr geliebt hatte und bang um die kurze Frist war, die ihr an seiner Seite gegönnt gewesen, neidete sie das junge Geschöpf sehr. Als sie ihre letzte Stunde gekommen fühlte, rief sie die beiden an ihr Bett und nahm ihnen Versprechen und
    Handschlag ab, sich niemals miteinander zu vermählen. Den beiden, die um die Sterbende litten, erschien das nicht schwer, und gern gaben sie es hin.
    Dann aber trug man die Tote hinweg, und ihr Platz war leer, selbst ihr Schatten war aus den Räumen gewichen, und da waren nur noch die Lebenden, und alles war Leben um sie her, sie sahen sich ins Auge zu jeder Stunde und verstanden bald, daß sie einander dennoch nicht lassen konnten. Da brachen sie ihren Eid und gelobten sich einander an. Aber am Morgen der Hochzeit, als die Luft im Hause voller Freude war und keiner der dunklen Tage dachte, da eine nun Tote hier leidvoll gehaust hatte, kam der Wille der verstorbenen Frau zurück an seine Stätte, heischte sein gebrochenes Recht und begehrte das glückliche Weib zu töten. Als nun, der fremden Kraft zu Gebot, das Leben der Braut sich von ihrem Körper gelöst hatte und dieser starr dalag, rang ihre Seele gewaltig mit der Seele der Toten um den Bräutigam. Da man sie zu Grabe trug, kamen ihrer beider Seelen vor die Entscheidung. Es war eine Menschenstimme über ihnen, die das Recht sprach, und sie kämpften vor ihr um das Gericht. Die Stimme sprach das Urteil: »Du Tote, die du keinen Teil mehr an der Erde hast, laß ab von ihr. Denn sieh, bei den Lebenden ist das Recht. Es ist keine Schuld auf diesem Weib und dem Mann. Sie mußten tun, was sie nicht wollten, um die Not ihrer Seele zu stillen.« Und da die Tote nicht nachließ, die Braut zu bedrängen, schrie die Stimme sie an: »Laß ab von ihr! Siehst du nicht, daß sie zur Hochzeit gehen muß? Der Baalschem wartet!« Da erwachte die Braut zum Leben, ließ sich aus dem Grab tragen und in ihre Schleier kleiden, und noch leise betäubt folgte sie den Frauen zum Baldachin.
    »Aber«, sagte sie zum Bräutigam und zu den Gästen, da sie ihre Erzählung vollendet hatte, »als der Prediger den Segen über uns sprach, erkannte ich die Stimme, die über mich das Recht gesprochen hatte.«

    Der wandernde Stab

    ES MAG um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewesen sein, da betrat ein ernster und stiller Mann ein einsames Wirtshaus, das irgendwo im Norden in der Heide lag. Sein Gesicht war fahl und grau wie Asche, seine Kleider waren braun wie die Erde eines frisch aufgeworfenen Grabes. In der Hand trug er einen Stab aus festem dunklem Holz. Diesen

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