Das Hausbuch der Legenden
gebaut habe und das Feuer auf meinem eigenen Herde brennt; wenn ich Bäume gepflanzt habe, die Blüten und Früchte tragen, wenn ich meines Lebens froh zu werden gedenke, dann soll ich sterben! O Herr, verlängere meine Zeit!«
»Ich will dir die achtzehn Jahre des Esels zulegen«, antwortete Gott.
»Das ist nicht genug!« erwiderte der Mensch. »Meinetwegen sollst du auch noch die zwölf Jahre des Hundes haben!«
»Immer noch zu wenig!«
»Wohlan«, sagte Gott, »ich will dir noch die zehn Jahre des Affen geben, aber mehr erhältst du nicht!« Der Mensch ging fort, war aber immer noch nicht zufrieden. Also lebt der Mensch siebzig Jahre. Die ersten dreißig sind seine
menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, heiter, arbeitet mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern aufgelegt: er muß das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr zum Beißen.
Und wenn diese Zeit vorüber ist, dann machen die zehn Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.
Späte Legenden
Die Waage der Gerechtigkeit
ALTE KALMÜCKISCHE Legenden erzählen von heiligen Leuten, die durch Milde gegenüber allen Geschöpfen den Segen des Himmels auf sich zogen. Wer das Blut der Tiere schonte, wer einer gefährdeten Kreatur aus einer Notlage half, wer die Fische pflegte und das Wild hegte, erwarb sich dieselben Verdienste wie einer, der den Menschen wohltat. In den heiligen Tagen bemühte sich jeder Kalmück besonders, gute Werke zu üben, weil sie ihm dann doppelt angerechnet werden sollten. Wer Fische ihrem Element zurückgab, wer Fliegen, Käfer und Spinnen befreite, ja, wer Taranteln und giftige Schlangen in diesen Tagen schonte, der durfte mit größeren Belohnungen rechnen. Man erzählte sich, daß die
andersgläubigen Russen diese Einstellung zu ihrem Vorteil ausnützten. Sie fingen an diesen Tagen besonders viel Wild und verkauften es zu überhöhten Preisen an die eifrigen Lamiten, die alle Kreaturen wieder in den Wäldern aussetzten.
Fromme Kalmücken sollen in den Wolgastädten ganze
Schiffsladungen mit Fischen aufgekauft und den Wellen zurückgegeben haben. Nur eine Tat wurde von diesem Volk der Analphabeten noch höher geschätzt: das Lesen heiliger Bücher.
Das zeigt die Geschichte von einem Saufbold, der sich infolge seiner Trunksucht frühzeitig in die andere Welt versetzt sah. Der Aerlik, der Höllenknecht, schleppte ihn vor den Thron des mongolischen Herrn der Unterwelt. Der ließ ihn warten, weil er noch mit anderen Sündern beschäftigt war. Dann verurteilte er den Säufer zu ewigen Höllenqualen.
In seiner großen Angst wagte der Verurteilte zu
widersprechen. Er warf sich vor dem Höllenfürsten auf die Erde, bedeckte sein Angesicht mit den Händen und sagte:
»Wie ich eben vernahm, hast du mehrere von den
Verstorbenen nur deshalb selig gemacht, weil sie das heilige Buch gelesen haben. Ich habe das Buch aber nicht nur gelesen; ich habe es von Anfang bis zu Ende abgeschrieben. Darf ich da nicht mit einer ähnlichen Belohnung rechnen?« Daraufhin blätterte Aerlikchan im Buch des Schicksals. Er fand die Aussage bestätigt und befahl, den zu Unrecht Verurteilten wieder auf die Erde zurückzubringen. Aber auch gegen diesen Spruch machte der Trinker Einwendungen. Er bat dringend darum, ihn doch an einen anderen Ort zu versetzen; denn in der irdischen Welt würden alle Tiere gegen ihn aufstehen, die er in seinem vorigen Leben getötet und geschlachtet habe.
Aerlikchan fand diese Einwendungen begründet. Er wollte dem vorgeführten Schatten schon einen neuen Bestimmungsort zuweisen, da fingen die Tiere an zu murren, alle die Schafe, Kühe, Pferde und die zahlreichen anderen Kreaturen, die unter den Händen des andächtigen Trunkenbolds ihr Leben gelassen hatten. Sie fanden, es sei nur billig, wenn der Peiniger nun von den Gepeinigten gestraft werde. Aerlikchan ließ eine Waage bringen und legte die murrenden Tiere in die eine, das heilige Buch in die andere Schale. Da flog die Schale mit den Tieren in die Höhe, und die andere Schale mit dem heiligen Buch sank auf die Erde herab. Da erkannten die rachgierigen Geschöpfe ihr Unrecht. Der Gerechtfertigte aber schwebte auf einem goldenen
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