Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
Vom Netzwerk:
war nahe daran, zu verzweifeln. Er lebte ständig in der
    unausschöpfbaren Angst vor dem Zwang, den ihm der Stab antat, und in der Furcht vor den Bildern des Elends, die er voraussehen mußte, die Gottes Güte dem sterblichen
    Menschen verbirgt. Er sah, wie der Krieg die Dörfer verheerte, wie die Ströme anschwollen, um das weite Land zu überfluten und die Ernten zu vernichten, er sah, wie die Pest die Menschen fraß und die Häuser still wurden, er sah alles Grauenvolle, das die nächste Zukunft bringen sollte.
    An einem Freitag kam er durch ein Dorf, in dem ein Hof brannte. Er warf den Stab in das große Feuer. Der Stock blieb an einem brennenden Dachsparren hängen, glühte rot auf und wurde dann weiß, die Silberstifte des Kreuzes leuchteten bläulich. Jakob ging ohne Stab nach Hause. Aber zu Hause stand der Stock in der Uhr. Jakob wurde ohnmächtig in den Armen seiner Mutter. Sie betete heiß und innig zum Himmel, sie jammerte vor Gott. Es half nichts. Jakob mußte wandern.
    Der Stab war aber barmherzig. Jakob war so sterbensmatt, daß er zu einem Weg von einer Stunde den ganzen Tag brauchte.
    Der Stab führte ihn nur noch um sein Vaterhaus. Der Junge hoffte, daß er nun bald sterben könne. Und seine Mutter und alle, die ihn kannten, fürchteten dasselbe.
    An zweiundfünfzig Freitagen war Jakob gewandert. Am Tag vor dem dreiundfünfzigsten hatte er einen Traum. Der Stab kam aus der Wanduhr zu ihm vor sein Bett und sagte: »Ich bin ein alter Stab. Der Erzvater Jakob ging mit mir über den Jordan. Als Mose mit dem Herrn sprach, lag ich in der Hand des Propheten und wurde zur Schlange und wieder zum Stab.
    In der Hand des Mose teilte ich die Fluten des Roten Meeres und schlug zweimal Wasser aus nackten Felsen. Wessen Stab ich jetzt bin, wirst du nie begreifen, mein Kind. Du hast eine schwere Sünde begangen, als du dem armen Wanderer seinen Stab und seine Stütze genommen hast. Dafür hast du ein Jahr lang wandern müssen, dafür hast du alle Bitterkeit des Lebens kosten müssen. Der Herr wird dich wieder auf den rechten Weg führen. Des Herrn Stecken und Stab wird dich trösten.«
    Als Jakob erwachte, fühlte er sich seltsam frisch. Es war Karfreitag. Er wartete vergeblich auf den Stab. Er kam nicht.
    Der Tag verging still und ruhig. Spät am Abend trat ein Fremder in die Stube und grüßte: »Friede sei mit euch!«
    Mutter und Sohn erkannten in ihm den grauen Wanderer. Ehe sie ein Wort sagen konnten, ging die Tür der Standuhr auf, der Stab legte sich in die Hand des Fremden, das Kreuz leuchtete hell in dem finsteren Raum. Der ewige Wanderer sagte noch einmal: »Friede sei mit euch!« Dann verschwand er.

    Nachwort

    Wer systematisch vorgehen und eine Textsammlung vorlegen wollte, die charakteristische Beispiele aus allen Religionen und aus allen Zeiten bringt, der könnte die bunte Fülle der Legenden der Welt nur in mehreren voluminösen Bänden unterbringen. Bei der knappen Auslese mußte der Liebhaber den Vorrang vor dem Systematiker erhalten. Für die meisten Nacherzählungen wurden verschiedene Quellen herangezogen.
    Sie sind im Anhang genannt. Einige Legenden durften mit der freundlichen Erlaubnis der Verleger aus anderen Werken übernommen werden. Auch diese Beiträge sind im
    Quellenverzeichnis näher bezeichnet. Herr Professor Dr.
    Hellmut Rosenfeld hat wertvolle Anregungen und Hinweise gegeben, für die ich ihm hiermit herzlich danken darf.
    Die Einteilung in Legenden des außerchristlichen und des christlichen Bereichs ergab sich von selbst. Am Anfang stehen einige Kultlegenden, deren Überlieferungen sich in
    abgewandelter Form später bei anderen Völkern wiederfinden.
    Da ist der Vegetationsmythos von Ischtar und Tammuz , den die Babylonier schon von den Sumerern, ihren Vorgängern im Zwischenstromland, übernommen haben, die Legende von der Unerbittlichkeit des Todes und der ewigen Wiederkehr des Lebens. Tod und Wiederauferstehung des Osiris (14)
    symbolisierten für die Ägypter das Steigen und Fallen des wohltätigen Nils, der das Land fruchtbar und reich machte. Set war der Gott der Dürre, der mit den Ernten alles Leben verkümmern ließ, bis Isis, die große Mutter, die liebende Schwester und Gattin, den Herrn des Nils wieder ins Leben zurückholte. Einfacher nimmt die Schamanen-Legende des Herrn über Geburt und Tod (19) ein ähnliches Thema auf, dessen Grundmotiv wahrscheinlich von Tibet nach Lappland gekommen und von dort aus bis zu den Indianern
    Nordamerikas weitergewandert ist.

Weitere Kostenlose Bücher