Das Hausbuch der Legenden
Jakob schlich sich in die Stube. Die Mutter drehte sich schnell um und rief: »Wo kommst du her, du
Unglückssohn? Hast du den Stock des Fremden genommen?«
Jakob blieb stumm – halb aus Trotz, halb aus Furcht vor der Mutter, die heute so hintergründig zornig war, schließlich aus Angst vor einer harten Strafe.
Die Mutter kreischte: »Du antwortest nicht? Also hast du den Wanderstab genommen, du gottvergessener Bube! Wo ist der Stock? Wo hast du ihn versteckt? Nimm ihn sofort und laufe dem Fremden nach. Ich habe ihm den Sonntagsstock deines toten Vaters geliehen, mit dem er immer in die Kirche ging.
Ich kann mir doch von dem Manne nicht nachsagen lassen, daß er in meinem Haus bestohlen worden ist, von meinem eigenen Kind bestohlen!«
Aber Jakob war verstockter; dazu kam eine unerklärliche, wachsende Angst. Sie machte ihn stumm. Er rührte sich nicht, er sagte kein Wort, die Mutter mochte schelten und toben, so viel sie wollte. Schließlich riß ihr der Geduldfaden. Sie prügelte den Jungen windelweich und schickte ihn ohne Abendbrot ins Bett. Als Jakob am nächsten Tag allein in der Gaststube war, holte er den Stab leise und heimlich aus dem Uhrkasten. Er betrachtete ihn mit Wohlgefallen; auf irgendeine Weise war ihm dieser Stab aber zugleich unheimlich. Das Kreuz der sieben Silberstifte funkelte merkwürdig, der Stab war kalt und feucht wie eine erstarrte Schlange, dann fühlte er sich wieder an, als ob er lebendig wäre. Unwillkürlich spürte Jakob einen Zwang, mit diesem Stab zu gehen, und er ging mit ihm – er ging – und ging – er ging immer weiter – er ging über die Heide hin – rastlos regte sich der Stab in Jakobs Hand – er ging gegen seinen Willen – er wußte nicht, wohin der Stab ihn führte – kalter Angstschweiß lief ihm über den Rücken – er war viele Stunden von seinem Vaterhaus entfernt – er war sehr müde – aber er mußte gehen, er konnte nicht ruhen und rasten, er konnte aus keiner Quelle trinken, er ging.
Als es endlich Abend wurde und die Nebel über die
menschenleere Heide schwebten, stand im grauen
Dämmerlicht ein düsteres Gehöft vor Jakobs Augen. Er ging darauf zu und merkte erst, als er durch die Tür ging, daß er zu Hause war. Die Mutter empfing ihn keineswegs freundlich. Sie hatte geglaubt, er sei davongelaufen, sie hatte sich geängstigt, sie hatte ihre Leute ausgeschickt, ihn zu suchen, die ganze Tagesarbeit war liegengeblieben. Jakob aber war müde, nur müde. Er wankte zu seinem Bett und schlief, ehe er sich richtig gelegt hatte. Der Stab fiel ihm aus der Hand. Die Mutter hob ihn auf. Ihr graute vor diesem Stock.
Eine Woche verging. Der Stab stand still im Gehäuse der alten Uhr. Jakob hatte ihn dort nicht verborgen. Er wußte nicht, wie der Stock wieder in die Uhr gekommen war. Er hütete sich, ihn anzurühren. Er mußte ihn nur von Zeit zu Zeit ansehen. Es fröstelte ihn bei diesem Anblick. Aus dem Dunkel des braunen Uhrgehäuses funkelten die sieben in Kreuzform genagelten Silbernägel wie Diamanten.
Am darauffolgenden Freitag aber war der Stab plötzlich wieder in Jakobs Hand. Er hatte ihn nicht aus seinem Versteck geholt. Aber er mußte wieder wandern, rastlos, ruhelos, den ganzen Tag, bis die Sterne am Himmel standen. Unvorstellbar müde, matt und zitternd, bleich im Gesicht kam der Junge nach Hause. Er redete nicht. Und wenn er redete, wußte er nur schauerliche Dinge zu erzählen: er sei durch die Dörfer gegangen und habe den Leuten angesehen, ob sie noch in diesem Jahre sterben oder nicht, er habe Häuser gesehen, die noch in diesem Jahr niederbrennen würden, er habe die Felder erkannt, die noch vor der Ernte der Hagel treffen werde.
Jeden Freitag mußte Jakob wandern; der Stab zwang ihn dazu. Und dabei mußte er alle Not und alles Leid sehen, die noch in diesem Jahr über die Menschen kommen sollten. Er berichtete es daheim der Mutter, der Magd und dem Knecht, und die erzählten es allen Gästen.
Es nützte nichts, daß Mutter und Sohn den wandernden Stab verwünschten. Es nützte nichts, daß Jakob den Stock in einem anderen Wirtshaus stehenließ, es nützte nichts, daß er ihn in einen reißenden Fluß warf, der Stab kehrte immer wieder zu ihm zurück. Sie vernagelten den Uhrkasten, aber am Freitag war der Stab wieder in Jakobs Hand. Sie wollten ihn in Stücke schlagen, die Axt brach auseinander, der Stab blieb ganz.
Jeden Freitag, den Gott werden ließ, mußte Jakob wandern. Er wurde immer schwächer, seine Seele wurde krank, er
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