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Das Hausbuch der Legenden

Das Hausbuch der Legenden

Titel: Das Hausbuch der Legenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Adolf Narciss
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Stab stellte er in eine Ecke der Gaststube. In diesem Wirtshaus wohnten zu dieser Zeit nur eine alte Frau mit ihrem
    vierzehnjährigen Sohn, ein Knecht und eine Magd. Die beiden Gesindeleute waren draußen beschäftigt. In der Gaststube traf der Fremde nur die Wirtin und ihren jungen Sohn.
    Der düstere Wanderer bat um einen kleinen Imbiß, und die Wirtin ging, ihn zu holen. Der Gast blieb allein mit dem Knaben. Aber er beachtete den jungen Menschen nicht, sondern trat an das Ostfenster der Stube, seufzte, stand lange und starrte hinaus auf die öde Fläche des Heidelandes. Der Knabe betrachtete indessen neugierig den Wanderstab des Fremden. Am Handgriff des Stabes fielen ihm sieben
    Silberstifte auf, die so eingeschlagen waren, daß sie ein Kreuz bildeten. Sie glänzten hell, wie neu. Dieser Stock reizte den Knaben. Je länger er ihn betrachtete, um so mehr verwandelte sich seine Neugier in Habgier. Schließlich blickte Jakob sich vorsichtig nach dem Fremden um, der unbeweglich am Fenster stand, drehte leise den Türgriff am Gehäuse einer großen alten Standuhr auf, öffnete die Tür, nahm den Stock, stellte ihn in die Uhr und schloß den Kasten wieder. Seine Hand zitterte, als er den Stock berührte. Aber er nahm ihn trotzdem. Der Stab war weg. Als die Mutter wieder in die Stube trat und den Imbiß für den Gast brachte, schlüpfte Jakob leise aus der Tür.
    Die Wirtin wünschte dem Fremden »Gesegnete Mahlzeit«. Der Mann neigte zum Zeichen des Dankes nur kurz den Kopf. Er nahm das Glas und trank, aber er setzte sich nicht. Der alten Frau war der düstere Mann nicht geheuer. Draußen begann schon die Abenddämmerung. Sie wollte nicht, daß der
    Fremdling die Nacht über in ihrem Hause bleibe. Trotzdem fragte sie ihn: »Wollt Ihr hier übernachten? Gleich ist es Abend! Und wollt Ihr Euch nicht wenigstens setzen? Seid Ihr denn nicht müde?«
    »Ich kann nicht bleiben, ich muß weiter, muß wandern! Wer fragt danach, ob ich müde bin?«
    Der Mann sprach sehr leise, mit einer stumpfen Stimme, und der Wirtin wurde immer unheimlicher zumute. Endlich legte der Fremde ein Geldstück auf den Tisch; die Wirtin nahm es.
    Dann wandte sich der Mann zur Tür, griff in die leere Stubenecke und fragte: »Wo ist mein Wanderstab?«
    »Hattet Ihr einen Stab?« fragte die Wirtin. »Ich hatte einen Stab. Ich stellte ihn in diese Ecke«, antwortete der Mann mit einer merkwürdig hohlen Stimme. »Mein Gott! Wo kann der Stock nur sein? Sucht doch noch einmal! Vielleicht habt Ihr ihn doch woanders hingestellt! Vielleicht habt Ihr den Stock woanders stehen lassen?«
    »Nein, nein. Der Stock ist weg! Er bringt der Hand, die ihn nahm, kein Glück!«
    »Genommen! Ihr sagt ›genommen‹! Wer sollte denn Euren Wanderstab genommen haben? Außer Euch und mir war
    niemand in der Stube, und…« da stockte sie. »Und Euer Sohn!« fuhr der Fremde fort.
    Die Frau schrie auf: »Gott im Himmel!« Sie lief aus der Stube, sie lief durch das ganze Haus. Sie rief überall nach ihrem Sohn Jakob. Aber der Bursche antwortete nicht. Er hatte sich versteckt. Er wußte, warum die Mutter ihn rief. Sie rief sehr zornig, sie rief verzweifelt. Jetzt fürchtete er sich. Atemlos lief die Frau in die Gaststube zurück. Sie hatte Angst, daß der fehlende Stock den Fremden im Haus halten könnte. Sie mußte einen Weg finden, ihn zu verabschieden. Sie rief ihm zu: »Ich kann den Jungen nirgends finden. Er antwortet nicht auf mein Rufen. Ich weiß nicht, ob er den Stab genommen hat oder ob er ihn nicht genommen hat. Aber wartet bitte noch einen Augenblick!«
    Sie lief in ihre Schlafkammer und kam bald darauf mit einem alten, aber schönen Wanderstab zurück. Sie übergab den Stock dem Fremden und sagte dazu: »Nehmt bitte einstweilen den Gehstock meines verstorbenen Mannes. Ihr kommt doch sicher noch einmal hier vorbei! Findet sich Euer Stock inzwischen, dann können wir die Stäbe wieder tauschen.« Der Fremde dankte, nahm den Stock und ging. Es war inzwischen dunkel geworden. Nebel schwebten über der Heide. In diesem Nebel verschwand der bleiche Wanderer. Der Frau war leichter ums Herz, als der unheimliche Gast das Haus verlassen hatte. Jetzt erst besah sie das Geldstück, das er auf den Tisch gelegt hatte.
    Sie kannte das Silberstück nicht. Sie konnte nicht wissen, daß sie eine uralte Münze in der Hand hielt, die das Bild des römischen Kaisers Tiberius trug, der um das Jahr 60 nach Christi Geburt Jerusalem zerstören ließ. Da ging hinter ihr leise die Tür auf.

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