Das Heerlager der Heiligen
Befehl, dafür zu sorgen, daß sich der Abzug in ordentlichen Bühnen bewegt und vor allem die nach Süden marschierenden Militärkolonnen nicht behindert werden. Herr Jean Perret, Staatssekretär und persönlicher Beauftragter der Republik in den vier Küstendepartements, hat den Notstand ausgerufen. Die Armee wird für den Schutz der verlassenen Besitzungen Sorge tragen, allerdings nur im Rahmen des Möglichen und soweit nicht andere Aufgaben Vorrang haben. Die Regierung bestätigt, daß sich der Präsident der Republik heute um Mitternacht in einem feierlichen Appell an das Volk wenden wird.«
Das war alles. Der alte Herr Calguès saß indessen einsam auf der Terrasse seines Hauses, das wie eine Schildwache des Dörfchens am Hang des Hügels über dem Meer dastand. Nach den knappen Nachrichten fragte er sich jetzt, ob die Schwätzer zufällig gestorben waren, denn in einer Gesellschaft, die gewohnheitsmäßig dem Wortrausch verfallen war, muß die Kürze des Gehörten auffallen. Er hatte ein Buch aufgeschlagen, seine Pfeife angezündet, sich genüßlich ein neues Glas Rosé eingeschenkt und wartete nun auf die Mitternachtsstunde …
34.
In Canberra, London und Pretoria traten in dieser Nacht die Regierungen ebenso zusammen wie in den Vereinigten Staaten und in der Sowjetunion. Wie groß auch die Verwirrung in London einerseits, die Entschlossenheit in Pretoria andererseits und das entfernte Mitfühlen in Canberra war, alle gelangten nach Stunden fieberhafter Beratungen zu dem Ergebnis, daß seit der Abfahrt der Armada vom Ganges der Westen der gefährlich schwachen Form eines im Strudel der Dritten Welt verlorenen Kartenhauses glich. Wenn jetzt die französische Karte an der Basis des bedrohten Bauwerks wegfiele, dann würden alle anderen Karten jäh zusammenstürzen. Am Ostersonntag, um halb zwölf Uhr nachts, wurden von den drei Hauptstädten an den Präsidenten der französischen Republik Telegramme gesandt, die ihn leidenschaftlich baten, selbst um den Preis unschuldig vergossenen Blutes hart zu bleiben.
Nebenbei sei vermerkt, daß diese drei Telegramme heute im Museum des Antirassismus im neuen Gebäude der UNO in Hanoi einen Ehrenplatz einnehmen, gleichsam als letzte Zeugnisse eines nunmehr verfemen Hasses. Die Schulkinder der ganzen Welt kennen den Text auswendig. Die Schulklassen jeglicher Altersstufe müssen ihn jederzeit vortragen und kommentieren können, aus Furcht, daß die Wachsamkeit einschlafen und erneut hassenswerte und der Natur des Menschen abträgliche Gefühle wieder aufleben könnten …
In London hatte die Lage in den letzten drei Tagen eine merkwürdige Veränderung erfahren. Nichts Tragisches, kein Aufruhr, keine Schlägerei, keine Rassenkrawalle, keinerlei physische oder propagandistische Bedrohung. Nur eine stillschweigende, geordnete Flut von Hunderttausenden von Arbeitern der Dritten Welt war aus allen Ecken Englands herbeigeeilt, um für ein »Nichteuropäisches Commonwealth-Komitee« zu demonstrieren. Ein Zwischenfall am Bahnhof von Manchester zeigte, daß England offenbar in einen seltsamen Zustand von Apathie versunken war. Vielleicht kann man nicht einmal von einem Zwischenfall sprechen, da die Beteiligten die heiterste Ruhe ausstrahlten. Zumindest konnte man in ihren Gesichtern keinen Zorn ablesen oder sonst einen Mißton hören oder eine feindliche Geste feststellen.
Am Ostersonntagabend wollten sich für die am Ostermontag in London vorgesehene Kundgebung des »Nichteuropäischen Commonwealth-Komitee« ungefähr dreißigtausend Pakistani, Bengali und Inder treffen, verstärkt durch Jamaikaner, Guyaner, Nigerianer und andere. Sie besetzten den Bahnhof von Manchester. Die schwarze Flut überfüllte die Bürgersteige, die Bahnhofshalle und die Schalterräume. Niemand kam merkwürdigerweise auf den Gedanken, ohne Fahrkarte zu reisen. Dies und ähnliches, das nicht zufällig war, besiegelte das Schicksal Englands. Wer kann sich auch schon im Land der Habeascorpusakte und der waffenlosen Polizei einer Verdrängung von Reisenden widersetzen, die still ihre Fahrkarte bezahlen. Man sah die Weißen nacheinander wortlos den Bahnhof verlassen, sicher verzweifelt, weil sie in den Zügen keinen Platz finden konnten. Diejenigen, die murrend in den Warteschlangen vor den Schaltern standen, wurden jedoch mit größter Höflichkeit behandelt. Man achtete ihren Platz in den Reihen, und niemand dachte daran, sie zu verdrängen. Aber die meisten bekamen ein beklemmendes Gefühl, obwohl
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